MegaFace (2021) Bild © Adam Harvey

DESIGN DISKURS

Designer*innen können system­ische Ver­­änder­­ungen proji­­zier­­en, sich mit den Aus­­wüch­sen des digi­­talen Kapi­talis­­mus aus­­ein­­ander­­setzen, neue For­mate der Zu­sam­­men­­arbeit und neue Mög­lich­­keiten zur För­der­ung lokaler Prak­tiken auf­tun, For­men des Wider­stands aus­üben und neue Design­­prin­­zipien ver­inner­­lichen und weiter­­ent­wickeln.

Veröffentlicht am 11.10.2022

Die Rolle von Design ver­ändert sich rasant ange­sichts der weit­reichen­den Bedeut­ung einer menschen­zen­trierten, sozial und öko­logisch nach­haltigen digi­talen Trans­forma­tion. Nach­dem die Dis­zi­plin lange ein euphor­isches Narra­tiv des Inter­nets mit­ge­tragen hat, richten sich die Augen von Ge­stalter­*innen ebenso wie die der Öffent­lich­keit immer kon­kreter auf die Risiken, welche digitale Techno­logien mit sich bringen: Macht­akku­mula­tion, Über­wach­ung, Un­gleich­be­hand­lung durch auto­mati­sierte Sys­teme, die Ver­letz­ung der Privat­sphäre und die nicht-ein­ver­nehm­liche Nutz­ung per­sön­licher Daten einerseits; ebenso wie der Res­sourcen­ver­brauch und die Aus­beutung von Regionen des soge­nan­nten globalen Südens. Der Prozess der Digi­tali­sier­ung wird dabei nicht mehr als rein tech­nisches Pro­blem, sondern als ein gesell­schaft­liches Phä­nomen begriffen.

Adam Harvey zeigt rund 700.000 Gesichter von der Online-Plattform Flickr, die zur Entwicklung von Gesichtserkennungs-Software genutzt wurden, ohne dass die Betroffenen ihr Einverständnis gegeben hatten. Bild: MegaFace (2021) © Till Vill

Wie kann also Ge­stalt­ung dazu bei­tragen, dass Indi­vi­duen und Kollek­tive sich selbst­be­stimmt und sicher im Digitalen be­wegen und Digi­tali­sierungs­pro­zesse mit­ge­stalten können – im Sinne einer gerechteren Zukunft für Men­schen und Um­welt? Welche Hand­lungs­spiel­räume haben Designer­*innen, wenn sie die Aus­wirkungen der Digitali­sier­ung auf Menschen und Umwelt ver­stärkt be­rück­sichtigen und gleich­zeitig Aspekte von Demo­kratie, Parti­zipa­tion und Teil­habe adres­sieren? Wenn es darum geht, die Gesell­schaft zukunfts­fähig zu ge­stalten – was Ziel zahl­reicher aktu­eller sozialen Be­wegun­gen ist, benötigen wir als Indi­viduen und Kollek­tive keine Seman­tik der Alter­nativ­losig­keit. Im Kon­volut kultur­eller Produktio­nen können Designer­*innen zu Zukunfts­vor­stellungen bei­tragen, die Menschen be­fähigen, ins Handeln zu kommen, um auf sub­jek­tiver, gesell­schaft­licher und planetar­ischer Ebene Pro­bleme gemein­sam zu identi­fi­zieren und zu be­ar­beiten. Sie können Vor­schläge zu alterna­tiven Sys­temen und Formen des Mit­ein­an­ders machen. Sie können dazu bei­tragen, dass demo­krat­ische Hand­lungs­fähig­keit sicher­ge­stellt wird, indem sie zur Transparenz über die Art und Weise, wie Ent­scheidungen ge­troffen werden (etwa bei der Re­gulier­ung oder Pro­duktion von digitalen Techno­logien) ver­helfen. Sie können ihre Kompe­tenzen dafür ein­setzen, dass die An­passung der Digitali­sierung an die Bedürf­nisse der Gesell­schaft begün­stigt wird, indem sie sich in die Gestalt­ung von Aus­handlungs­pro­zessen und deliber­ativer Formen öffent­licher Debatten ein­bringen; Projekte initi­ieren, die die Logiken des Gegen­ein­anders, des Schneller, Weiter, Größer über­winden und in Logiken der Fairness, der Nach­haltig­keit, der Für­sorge und des Teilens über­setzen. Sie können system­ische Ver­änder­ungen proji­zieren, sich mit den Aus­wüchsen des digitalen Kapi­talis­mus aus­ein­ander­­setzen und neue Formen der Zusam­men­arbeit, neue Möglich­keiten zur För­der­ung lokaler Praktiken auftun oder Formen des Wider­stands prakti­zieren, neue Design­prinzipien (Design Justice Principles, First Things First Manifests, Zehn­einhalb Thesen zum Design für die Demo­kratie) ver­inner­lichen und weiter­ent­wickeln.

Joana Moll stellte auf der Weizenbaum Conference 2022 ihre Arbeit „Carbolytics“ vor, bei der es um den ökologischen Fußabdruck von Cookies geht. Bild: Carbolytics, © Joana Moll

Neulich habe ich eine Kurz­studie zu Fragen der nach­haltigen Digitali­sierung und der digitalen Sou­ver­äni­tät in einem inter­diszi­plinären Team mit Kolleg­*innen vom Weizen­baum-Institut er­stellt. 1 In der Studie haben sich einige zentrale Aspekte her­aus­kristal­lisiert, die die Rolle von Design bei der Kon­zeption und Ent­wick­lung von Mög­lich­keits­räumen für Mit­gestalt­ung und demo­kratische Teil­habe auch für Nicht-Designer­*innen explizit machen. Design ver­knüpft dabei sowohl umwelt­polit­ische Fragen als auch Fragen einer ge­rechteren und in­klusiver­en digitalen Trans­formation, vor allem in den Aspekten digitale Kompe­tenz und digitale Bildung, soziale und digitale Inklu­sion, Ver­ringer­ung von Un­gleich­heiten und Gemein­wohl­orien­tierung. Diese Aspekte finden sich auch unter den Zielen für nach­haltige Ent­wicklung der Vereinten Nationen. Dort sind bei­spiels­weise Ver­ringer­ung von Un­gleich­heiten, Gerechtig­keit, Bildung für alle und starke Insti­tuti­onen als gesell­schaft­liche Leit­ziele fest­ge­schrieben. Design kann dabei eine zen­trale Rolle spielen, wenn es sich etwa der gesell­schaft­lichen Teil­habe im und durch Design ver­schreibt und das durch Design zur Ver­fügung gestellte Instrumen­tarium nutzt, um mög­lichst viele Per­spek­tiven in Ent­scheidungs­prozesse einzu­binden, mög­lichst ver­schiedene Arten von Wissen auf­ein­ander zu be­ziehen, damit Komplex­itäten auch gesell­schafts­rele­vant adres­siert werden können. 

Wie können Menschen mit verschiedenen Hintergründen in Stadtentwicklungsprozesse eingebunden werden? Bild © INTERPART – Interkulturelle Räume der Partizipation, UdK Berlin/Design Research Lab.

Die Dispositionen, aus denen heraus Dinge, Artefakte, Systeme, Prozesse und digitale Techno­logien ge­staltet und genutzt werden, ent­stam­men einer Welt, die ent­lang ver­schiedener Achsen von Un­gleich­heiten ge­prägt ist. Ent­sprechend sind Dis­krimi­nier­ungen, Ex­klusion, Unter­drückung und Gewalt im Analogen wie Digi­talen nach wie vor wirkmächtig. 2

Als eine Disziplin, die Zusam­men­hänge auf­zu­zeigen, blinde Flecken auf­zu­decken, ver­schiedene Per­spek­tiven zusam­men­zu­bringen oder sub­versiv zu agieren ver­mag, kann Design im Prozess der Digi­tali­sier­ung das gesell­schaft­liche Inter­esse für eine nach­halt­ige Ent­wick­lung in den Vor­der­grund stellen – auf öko­nom­ischer, öko­logischer und sozialer Ebene. Das bedeutet mit­unter, Fragen nach den not­wendigen Vor­aus­setz­ungen zur Be­fähigung der Men­schen in Bezug auf Ver­wirk­lichungs­möglich­keiten auf dem Weg zu einer nach­halt­igen gesell­schaft­lichen Ent­wick­lung zu adres­sieren (in An­lehn­ung an den Be­fähigungs­ansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum). Das bedeutet auch danach zu fragen, wie sowohl Be­troffene als auch Beteiligte auf dem Weg in eine sozial-ökologisch nach­haltige digitale Trans­formation mit­gen­om­men werden können. Ein zentrales Ergeb­nis der oben erwähnten Kurzzeit-Studie ist, dass mehr Räume und For­mate des Aus­tauschs, des Lernens und der Zusam­men­arbeit ge­schaffen und ge­staltet werden müssen, um die Kom­plexi­tät und Dynamik aktu­eller, mit­ein­ander eng ver­wobener Heraus­forder­ungen (be-)greifen und adres­sieren zu können. Dazu ge­hören auch inter- und trans­diszi­plinäre Ko­operati­onen, die ver­schiedene Dis­kurse auf­ein­ander beziehen und Räume dafür schaffen, dass unter­schied­liche Wissens­bestände, Perspektiven und Interessen zusammen­kommen – im Sinne gesell­schaft­licher Teil­habe.

Design braucht dafür gezielte Förderung inter- und trans­diszi­pli­närer (For­schungs-)Projekte und inter­natio­naler Ko­oper­ationen, um ver­schiedene kultur­elle, soziale und gesell­schaft­liche Per­spek­tiven bei der Ent­wick­lung von Techno­logien und Kon­zepten zu berück­sichtigen. Es braucht Möglich­keiten der Finan­zier­ung, um Sensi­bi­lität und ein Be­wusst­sein für globale Per­spek­tiven auf Nach­haltig­keit und Digi­tali­sier­ung ent­falten zu können. Hier ist also so­wohl die For­schungs­förder­ung selbst als auch die For­schungs­gemein­schaft ge­fragt, trans­diszi­plinäre und trans­forma­tive For­schung als gesell­schafts­re­le­vant anzu­er­ken­nen, zu fördern und zu prakti­zieren. Dazu ge­hören auch Pro­jekte der kritischen Digi­tali­sierungs­for­schung, die in Zusam­men­arbeit mit aka­dem­ischen und nicht-aka­dem­ischen Ver­treter­*innen durch­geführt werden (Partner­*innen aus Politik, Ver­waltung, Wirt­schaft und Zivil­gesell­schaft), nieder­schwellige Aus­tausch- und Aus­hand­lungs-Formate und horizon­tale Ko­opera­tionen gehören dazu. Ebenso, dass die Gestalt­ungs- und Ent­wicklungs­teams selbst diverser werden. Damit erhöhen sich die Chancen, globale Unge­rechtig­keiten, Gender­fragen und das Gender Data Gap,3 gesell­schaft­liche und dement­sprechend auch digitale Dis­krimi­nier­ung anzu­gehen, denn die Er­fahr­ungen, Ein­stell­ungen, Gerechtig­keits­vor­stellungen mög­lichst vieler werden idealer­weise in Ge­staltungs­prozesse ein­be­zogen. Damit beziehen sich Fragen nach der Ein­bindung von Menschen mit unter­schied­lichen Inter­essen und Bedürf­nissen direkt auf die Gestalt­ung von Arte­fakten, Sys­temen und Prozessen.

Wer sich davon ange­sprochen fühlt, ver­mag ins Handeln kommen. Es ist nicht die Pflicht von Designer­*innen, auf Kosten ihrer Selbst­er­halt­ung zu agieren. Aber es ist unser aller Zeit, darüber nach­zu­denken und zu ver­stehen beziehungs­weise Vor­stell­ungen darüber zu ent­wickeln, wie wir sub­jektive, gesell­schaft­liche und plane­tar­ische Interes­­sen besser auf­ein­ander be­ziehen können – denn wir haben aktuell das Wissen, die Vor­aus­setz­ungen und besten­falls auch das Bewusst­sein darum.

Quellenverzeichnis

1   Die Studie „Verantwortungsvolle, demokratisch nachhaltige digitale Souveränität“ widmet sich den Interdependenzen zwischen digitaler Souveränität und nachhaltiger Digitalisierung, die im politischen Diskurs, in der Wissenschaft und in gesellschaftlichen Debatten immer expliziter in Verbindung gebracht werden. Digitale Kompetenzen dienen dabei als Ausgangspunkt für die Gestaltung der Digitalisierung im gesellschaftlichen Interesse und für eine nachhaltige Entwicklung. Autor*innen: Bianca Herlo, Gergana Vladova, André Ullrich (Weizenbaum-Institut); erstellt im Rahmen von CO:DINA und in Zusammenarbeit mit IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung; Veröffentlichung: November 2022.
2   Benjamin, Ruha (2019): Race After Technology. Cambridge: Polity Press; Costanza-Chock, S. (2020) Design justice: Community-led practices to build the worlds we need. MIT Press; D’Ignazio, C., & Klein, L. F. (2019). Data feminism. MIT Press.
3   Criado-Perez, C. (2019). Invisible women. Exposing data bias in a world designed for men. Chatto & Windus.

Dr. Bianca Herlo

Ist Designforscherin an der UdK Berlin und leitet die Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität“ am Berliner Weizenbaum-Institut. Seit Oktober 2022 verwaltet sie zudem die Professur „Designwissenschaft“ an der HBK. Sie ist Gründungsmitglied des Social Design Network und Vorstandsvorsitzende der DGTF. Herlo ist Mitherausgebern des Podcasts Purplecode.org.