DESIGN DISKURS
Designtheoretische Diskurse beschäftigen sich seit über 50 Jahren mit Design Thinking – lange bevor der Begriff im Management Karriere machte. Ob nun als gestaltende Strategie oder als Methode – wichtig fürs Design ist, die Schnittstelle von Design, Management und Organisation nicht nur anderen zu überlassen.
„Das machen wir doch immer schon so“ oder „Ist das nicht schon wieder vorbei?“ – solche oder ähnliche Reaktionen gab es Dutzende, wenn ich in den letzten Jahren nach meinem Forschungsfeld, der Rolle von Design in Organisationen, befragt wurde. Design Thinking begegnete ich jedoch zu einem früheren Zeitpunkt, als der Begriff im deutschsprachigen Raum erst an Bedeutung gewann. Im Jahr 2012 reiste ich nach Indien, um mit Architekt*innen, Ingenieur*innen und Designer*innen die Lebensqualität in einem Armenviertel zu verbessern.
Wir beobachteten den Alltag, entwickelten ein Vertrauensverhältnis zu den Bewohner*innen, besuchten sie zu Hause, interagierten mit Händen, Füssen und Empathie um Problemfelder zu identifizieren, zu verstehen, woher sie rühren, und kritisch zu überprüfen, ob sie aus Sicht der Bewohner*innen überhaupt ein Problem darstellen, wenn wir dies aus unserer westlich geprägten Perspektive annahmen. Ein Lösungsvorschlag für die Müllbeseitigung auf dem Schulhof sah eine Anschaffung von Tonnen zur Mülltrennung vor, bis eine Schülerin zu bedenken gab, dass es vor Ort kein Entsorgungssystem gibt, dass wöchentlich die Tonnen leert.
„Ich verstehe gestaltendes Denken und Handeln als Einfallstor zum systemischen Wandel zur Neuausrichtung, in der der Mensch als Person, soziales Lebewesen, aber auch als Akteur*in im Zentrum steht.“
Stellvertretend für weitere Momente dieser Art, integrierten wir die Bewohner*innen von Beginn an in den Prozess, entwickelten gemeinsame visuelle Skizzen und einfache Modelle, die uns nicht zuletzt halfen, Sprachbarrieren zu überwinden und menschenzentrierte Lösungen für die Unterrichtsgestaltung der Dorfschule und die Wasserversorgung zu gestalten. Eine Vorgehensweise, die ohne den Feldzugang und die Integration der Bewohner*innen nicht zum Erfolg geführt hätte. Diese Erlebnisse veränderten mein Verständnis von Design. Fortan verstand ich gestaltendes Denken und Handeln als Einfallstor zum systemischen Wandel, um eine Neuausrichtung zu bewirken, in der der Mensch als Person, soziales Wesen, Lebewesen, aber auch als Akteur*in im Zentrum steht.
Design Thinking = Design?
Ein Verständnis von Design als gestalterisches Denken und Handeln ist im internationalen designtheoretischen Diskurs bereits etabliert gewesen und reichte über Spezialisierungen in Produkt- oder Kommunikationsdesign hinaus. In deutschsprachigen Institutionen wurde der Begriff vorwiegend als Nomen verwendet und mit einem Artikel versehen – das Design. Die Spezialisierungen hatten sich so weit durchgesetzt, dass die Studienwahl entschied, ob, verkürzt ausgedrückt, dreidimensionale Produkte wie Bohrmaschinen, Sitzgelegenheiten oder Fahrzeuge gestaltet werden oder das zugehörige Werbematerial, Bücher und Magazine. Die eigentlich Nutzenden rückten zugunsten des Mediums in den Hintergrund. Aus Sicht anderer Disziplinen sind die Tätigkeiten von Designer*innen daher überwiegend mit dem Entwurf von haptischen Produkten verbunden und weniger mit der Gestaltung von Interaktionsmustern oder Unternehmensprozessen. Designtheoretische Diskurse dagegen beschäftigen sich bereits seit etwa 1950 damit, wie professionelle Designer*innen entwerfen und verstehen darin Design Thinking als leitende Denkweise des Handelns – lange bevor der Begriff in der Praxis Aufmerksamkeit auf sich zog. Jedoch verblieben diese Diskurse in der Theorie und sind anderen Disziplinen und der Praxis wenig zugänglich.
Der Auftrieb von Design Thinking in der Industrie
Der Begriff Design Thinking tauchte konkret am Anfang der 2010er Jahre im Innovationsumfeld auf. Proklamiert von Vertreter*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Designwelt – namentlich SAP, Stanford und IDEO – etablierte sich in der deutschen Wirtschaft eine andersartige Interpretation von Design Thinking, die darauf abzielte, Produkt- und Dienstleistungsideen zu entwickeln, die Kund*innen attraktiv finden und dafür vorschlug, die Bedürfnisse dieser in den Entwurfsprozess zu integrieren. Auch der Wolfsburger Automobilkonzern Volkswagen folgte diesem Hype, um den Herausforderungen der Digitalisierung zu begegnen. Die Orientierung an Kund*innen-Bedürfnissen schien vielversprechend, um die Marktposition zu sichern und zukünftig relevant zu bleiben.
„Während die Design-Disziplin von einem offenen Prozess mit kreativer Freiheit getrieben ist, verfolgt die Management-Schule das Denken in wiederkehrenden Mustern in zuvor definierten Rahmen und enthält sich Aspekten wie Imagination, Offenheit und Intuition.“
Im industriellen Umfeld zeigt sich die Rolle des Designs in Form von professionellen Designer*innen, die in Produktdesign-Abteilungen arbeiten und Aufträgen an Designagenturen für Printprodukte und Kampagnen. Die Innovationsentwicklung – im Auftrieb von Design Thinking ein wichtiger Aspekt – fand jedoch überwiegend in technisch geprägten Forschungsabteilungen ohne professionelle Designer*innen statt. Zunehmend tauchten jedoch in unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens wie dem Marketing, der IT oder der Produktion Aktivitäten auf, die als Design Thinking bezeichnet wurden. Außerhalb des Unternehmens erschienen Ratgeber, Methodenkartensets, Toolboxen und Templates rund um Design Thinking. In Workshops oder mehrtägigen Schulungen entstand bei Nicht-Designer*innen, die zuvor keine Berührungspunkte mit Design, Innovationsentwicklung oder Zukunftsszenarien hatten, der Eindruck, das Befolgen von Methoden in einer bestimmten Reihenfolge entfalte ihr kreatives Potenzial. Diese Interpretation von Design Thinking hatte zu einer Demokratisierung von Kreativmethoden bei VW geführt, die aus dem Kanon der Designmethoden und -techniken entliehen war – aber nur selten den designtheoretischen Diskurs referenzierte.
Theoretische Unschärfe und praktische Anwendung
Der deutschsprachige Diskurs an der Schnittstelle von Design, Management und Organisation ist noch jung. In der Industrie arbeiten dagegen nur vereinzelt professionelle Designer*innen in der Innovationsgestaltung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide Design Thinking-Ursprünge sich unabhängig voneinander entwickelten. Feststeht, dass etwa seit 1950 und demnach grob seit über 50 Jahren, bevor Design Thinking im Kontext von Innovation und Unternehmen populär wurde, die Designtheorie bereits darüber diskutiert. In der Theorie wird Design Thinking als eine systemische Vorgehensweise des Gestaltens verstanden, wohingegen der jüngere Diskurs überwiegend im Management verortet ist und unter Design Thinking eine Toolbox, Methode oder Anleitung zum erfolgreichen Entwickeln kreativer Ideen und Innovationen verstehen möchte. Letzteres scheint die Verkürzung zu sein, die innerhalb der Design-Diskurse für Kritik sorgt und nicht zuletzt an den unterschiedlichen Weltsichten und Denkschulen liegen mag.
Während die Design-Disziplin von offenen Vorgehensweisen, einem situativen Anpassen und einem notwendigen, stetigen Neu-Entwickeln von Vorgehensweisen getrieben ist – also einem offenen Prozess mit kreativer Freiheit – verfolgt die Management-Schule das Denken in wiederkehrenden Mustern in zuvor definierten Rahmen und enthält sich Aspekten wie Imagination, Offenheit und Intuition – wiederum die Prämissen des Design Thinking in der Ausprägung als gestalterisches Denken und Handeln. Die zwei unterschiedlichen Interpretationen schlagen sich sowohl in der Praxis als auch in der Theorie nieder. Sie drücken sich darin aus, dass sich die Entwicklungen in den Feldern Design und Management auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Prägungen zurückführen lassen – Design Thinking als Methode und Design Thinking als gestaltende Strategie. In der konkreten Anwendung tauchen daher auch Mischformen auf, die die diffuse Gemengelage zwischen Anwendungsform und Zielsetzung verstärken.
Fragen für die Design-Disziplin
Die interessante Frage in Bezug auf Design Thinking liegt weniger darin, ob Menschen es richtig oder falsch anwenden oder ob sie der Disziplin etwas wegnehmen oder gar welche der Interpretationen besser erscheint. Sondern vielmehr darin, woher das Bestreben rührt, Praktiken des Designs zu demokratisieren und welche disziplinären Fragestellungen sich aus dieser Entwicklung für Designforschungsdiskurse ergeben. Welches Verständnis der Rolle von Design existiert in der Industrie? Wie verändert sich die Beziehung zwischen Handelnden und ihren Praktiken, wenn nicht nur professionelle Designer*innen gestalten, sondern sich durch den Auftrieb von Design Thinking kreative Praktiken in vielen Bereichen von Organisationen verbreiten?
„Die interessante Frage in Bezug auf Design Thinking liegt darin, woher das Bestreben rührt, Praktiken des Designs zu demokratisieren und welche disziplinären Fragestellungen sich aus dieser Entwicklung für Designforschungsdiskurse ergeben.“
Mit Blick auf die Ausrichtung der Designausbildung fordern die Entwicklungen auch dazu auf, kritisch zu überprüfen, welche Spezialisierung in der Designausbildung redundant werden oder nicht mehr zeitgemäß sind. Nicht zuletzt: Lässt die Entwicklung einen neuen Raum mit neuartigen Handlungsfeldern eröffnen?
Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie sich die originäre Design-Disziplin gegenüber einer Entwicklung verhält, die auch ohne sie stattfindet und deren Gestaltungs-Lead sie (bislang) nicht aufgenommen hat. Die bisherigen Reaktionen seitens der deutschsprachigen Design-Disziplin sind tendenziell verhalten bis kritisch. Einerseits mehren sich Wünsche danach, sich von Design Thinking und Innovationsaktivitäten in Unternehmen zu distanzieren und stattdessen weiter zu akademisieren. Andererseits gibt es Vertreter*innen, die einen menschenzentrierten Gestaltungsansatz zum Lösen komplexer Probleme vorschlagen. Sicher gibt es noch weitere Perspektiven, Vorbehalte oder Anwendungsfelder, die diskursiv gestaltet werden und keinem Entweder-oder folgen sollten. Wünschenswert wäre es doch, den designtheoretischen Dreiklang aus Forschung, Lehre und Praxis weiterhin verknüpfend-synergetisch zu betrachten, statt sich zu verinseln und die wichtiger werdende Schnittstelle von Design, Management und Organisation anderen zu überlassen.
In meiner Arbeit habe ich untersucht, wie der Aufstieg von Design Thinking in einer etablierten Unternehmenspraxis wirkt, was unter Design Thinking verstanden wird, um den möglichen Beitrag in Bezug auf die Veränderungsfähigkeit einer Organisation zu erkennen – ab 2022 nachlesbar in einer Publikation im transcript Verlag unter dem Titel „Design Thinking in der Industrie“. Am Beispiel des Volkswagen Konzerns wird herausgearbeitet, was eigentlich gemeint ist, wenn etwas als Design Thinking betitelt wird, und davon ausgehend analysiert, welchen Spannungsfeldern Anwender*innen in der Unternehmenspraxis ausgesetzt sind. Ausgehend davon wird abschließend diskutiert, inwiefern Design Thinking in der vorhandenen Anwendungsform zur Veränderungsfähigkeit von Unternehmen beiträgt. Sie darf als Einladung gelesen werden, die Aktivitäten und das Interesse der Industrie um Design Thinking (mit-)zugestalten. Sie liefert Denkanstöße, welche Rolle Design in Organisationen einnehmen kann und welchen Beitrag sie in dieser Rolle zur Innovationsentwicklung und Organisationsgestaltung leisten kann. Ich freue mich auf den Diskurs!