Bild: Hanna Becker

DESIGN DISKURS

Designtheoretische Diskurse beschäftigen sich seit über 50 Jahren mit Design Thinking – lange bevor der Begriff im Management Karriere machte. Ob nun als gestaltende Strategie oder als Methode – wichtig fürs Design ist, die Schnittstelle von Design, Management und Organisation nicht nur anderen zu überlassen.

Veröffentlicht am 02.11.2021

„Das machen wir doch immer schon so“ oder „Ist das nicht schon wieder vorbei?“ – solche oder ähnliche Reak­tionen gab es Dutzende, wenn ich in den letzten Jahren nach meinem Forschungs­feld, der Rolle von Design in Organi­sationen, befragt wurde. Design Thinking begegnete ich jedoch zu einem früheren Zeit­punkt, als der Begriff im deutsch­sprachigen Raum erst an Bedeutung gewann. Im Jahr 2012 reiste ich nach Indien, um mit Architekt­*innen, Ingen­ieur­*innen und Designer­*innen die Lebens­qualität in einem Armen­viertel zu verbessern.

Wir beobachteten den Alltag, entwickelten ein Vertrauens­ver­hält­nis zu den Bewohner­*innen, besuchten sie zu Hause, inter­agierten mit Händen, Füssen und Empathie um Problem­felder zu identi­fizieren, zu ver­stehen, woher sie rühren, und kritisch zu über­prüfen, ob sie aus Sicht der Bewohner­*innen über­haupt ein Problem dar­stellen, wenn wir dies aus unserer west­lich geprägten Pers­pektive annahmen. Ein Lösungs­vor­schlag für die Müll­beseitigung auf dem Schul­hof sah eine Anschaffung von Tonnen zur Müll­trennung vor, bis eine Schülerin zu bedenken gab, dass es vor Ort kein Ent­sorgungs­system gibt, dass wöchent­lich die Tonnen leert.

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„Ich verstehe gestaltendes Denken und Handeln als Ein­falls­tor zum systemischen Wandel zur Neu­aus­richtung, in der der Mensch als Person, soziales Lebe­wesen, aber auch als Akteur*in im Zentrum steht.“

Stell­vertretend für weitere Momente dieser Art, integrierten wir die Bewohner­*innen von Beginn an in den Prozess, ent­wickelten gemein­same visuelle Skizzen und ein­fache Modelle, die uns nicht zuletzt halfen, Sprach­barrieren zu über­winden und menschen­zentrierte Lösungen für die Unter­richts­ge­staltung der Dorf­schule und die Wasser­ver­sorgung zu gestalten. Eine Vorgehens­weise, die ohne den Feld­zugang und die Inte­gration der Bewohner­*innen nicht zum Erfolg ge­führt hätte. Diese Erleb­nisse veränderten mein Ver­ständnis von Design. Fortan verstand ich gestaltendes Denken und Handeln als Einfalls­tor zum systemischen Wandel, um eine Neu­aus­richtung zu bewirken, in der der Mensch als Person, soziales Wesen, Lebe­wesen, aber auch als Akteur­*in im Zentrum steht.

 

Design Thinking = Design?

Ein Verständnis von Design als gestalterisches Denken und Handeln ist im inter­nationalen design­theoretischen Diskurs bereits etabliert gewesen und reichte über Speziali­sierungen in Produkt- oder Kommu­nikations­design hinaus. In deutsch­sprachigen Institutionen wurde der Begriff vor­wiegend als Nomen ver­wendet und mit einem Artikel ver­sehen – das Design. Die Speziali­sierungen hatten sich so weit durch­gesetzt, dass die Studien­wahl entschied, ob, verkürzt aus­ge­drückt, drei­dimensi­onale Produkte wie Bohr­maschinen, Sitz­gelegen­heiten oder Fahr­zeuge ge­staltet werden oder das zu­gehörige Werbe­material, Bücher und Magazine. Die eigentlich Nutzenden rückten zugunsten des Mediums in den Hinter­grund. Aus Sicht anderer Diszi­plinen sind die Tätig­keiten von Designer­*innen daher über­wiegend mit dem Ent­wurf von haptischen Produkten ver­bunden und weniger mit der Gestaltung von Inter­aktions­mustern oder Unter­nehmens­prozessen. Design­theoretische Diskurse dagegen beschäftigen sich bereits seit etwa 1950 damit, wie professio­nelle Designer­*innen ent­werfen und ver­stehen darin Design Thinking als leitende Denk­weise des Handelns – lange bevor der Begriff in der Praxis Auf­merk­samkeit auf sich zog. Jedoch verblieben diese Diskurse in der Theorie und sind anderen Dis­ziplinen und der Praxis wenig zugänglich.

 

Der Auftrieb von Design Thinking in der Industrie

Der Begriff Design Thinking tauchte konkret am Anfang der 2010er Jahre im Inno­vations­umfeld auf. Proklamiert von Vertreter­*innen aus Wirt­schaft, Wissen­schaft und Design­welt – nament­lich SAP, Stanford und IDEO – etablierte sich in der deutschen Wirt­schaft eine andersartige Inter­pretation von Design Thinking, die darauf abzielte, Produkt- und Dienst­leistungs­ideen zu ent­wickeln, die Kund­*innen attraktiv finden und dafür vor­schlug, die Bedürfnisse dieser in den Entwurfs­prozess zu integrieren. Auch der Wolfs­burger Auto­mobil­konzern Volks­wagen folgte diesem Hype, um den Heraus­forderungen der Digitali­sierung zu begegnen. Die Orien­tierung an Kund­*innen-Bedürfnissen schien viel­ver­sprechend, um die Markt­position zu sichern und zukünftig relevant zu bleiben.

„Während die Design-Disziplin von einem offenen Prozess mit kreativer Frei­heit getrieben ist, verfolgt die Manage­ment-Schule das Denken in wieder­kehrenden Mustern in zuvor definierten Rahmen und ent­hält sich Aspekten wie Imagi­nation, Offen­heit und Intuition.“

Im industriellen Umfeld zeigt sich die Rolle des Designs in Form von professio­nellen Designer­*innen, die in Produkt­design-Abteilungen arbeiten und Auf­trägen an Design­agenturen für Print­produkte und Kampagnen. Die Innovations­ent­wicklung – im Auftrieb von Design Thinking ein wichtiger Aspekt – fand jedoch überwiegend in technisch geprägten Forschungs­abteilungen ohne professio­nelle Designer­*innen statt. Zunehmend tauchten jedoch in unter­schied­lichen Bereichen des Unter­nehmens wie dem Marketing, der IT oder der Produktion Aktivitäten auf, die als Design Thinking bezeichnet wurden. Außerhalb des Unter­nehmens erschienen Rat­geber, Methoden­kartensets, Tool­boxen und Templates rund um Design Thinking. In Work­shops oder mehr­tägigen Schulungen ent­stand bei Nicht-Designer­*innen, die zuvor keine Berührungs­punkte mit Design, Innovations­ent­wicklung oder Zukunfts­szenarien hatten, der Eindruck, das Befolgen von Methoden in einer bestimmten Reihen­folge entfalte ihr kreatives Poten­zial. Diese Inter­pretation von Design Thinking hatte zu einer Demo­kratisierung von Kreativ­methoden bei VW geführt, die aus dem Kanon der Design­methoden und -techniken ent­liehen war – aber nur selten den design­theo­retischen Diskurs referenzierte.

 

Theoretische Unschärfe und praktische Anwendung

Der deutsch­sprachige Diskurs an der Schnitt­stelle von Design, Manage­ment und Organisation ist noch jung. In der Industrie arbeiten dagegen nur vereinzelt profes­sionelle Designer­*innen in der Innovations­gestaltung. Daher ist es nicht ver­wunder­lich, dass beide Design Thinking-Ursprünge sich unabhängig von­ein­ander ent­wickelten. Feststeht, dass etwa seit 1950 und dem­nach grob seit über 50 Jahren, bevor Design Thinking im Kontext von Inno­vation und Unter­nehmen populär wurde, die Design­theorie bereits darüber diskutiert. In der Theorie wird Design Thinking als eine systemische Vor­gehens­weise des Gestaltens ver­standen, wohin­gegen der jüngere Diskurs überwiegend im Manage­ment verortet ist und unter Design Thinking eine Tool­box, Methode oder An­leitung zum erfolgreichen Ent­wickeln kreativer Ideen und Inno­vationen verstehen möchte. Letzteres scheint die Ver­kürzung zu sein, die inner­halb der Design-Diskurse für Kritik sorgt und nicht zuletzt an den unter­schied­lichen Welt­sichten und Denk­schulen liegen mag.

Bild: Hanna Becker

Während die Design-Disziplin von offenen Vorgehens­­weisen, einem situativen Anpassen und einem not­wendigen, stetigen Neu-Ent­wickeln von Vor­gehens­weisen getrieben ist – also einem offenen Prozess mit kreativer Freiheit – verfolgt die Manage­ment-Schule das Denken in wieder­kehrenden Mustern in zuvor definierten Rahmen und enthält sich Aspekten wie Imagi­nation, Offen­heit und Intuition – wiederum die Prämissen des Design Thinking in der Aus­prägung als gestalterisches Denken und Handeln. Die zwei unter­schied­lichen Inter­pretationen schlagen sich sowohl in der Praxis als auch in der Theorie nieder. Sie drücken sich darin aus, dass sich die Ent­wicklungen in den Feldern Design und Manage­ment auf zwei grund­sätzlich unter­schiedliche Prägungen zurück­führen lassen – Design Thinking als Methode und Design Thinking als gestaltende Strategie. In der konkreten An­wendung tauchen daher auch Misch­formen auf, die die diffuse Gemenge­lage zwischen Anwendungs­form und Ziel­setzung verstärken.

 

Fragen für die Design-Disziplin

Die interessante Frage in Bezug auf Design Thinking liegt weniger darin, ob Menschen es richtig oder falsch anwenden oder ob sie der Dis­ziplin etwas weg­nehmen oder gar welche der Inter­pretationen besser erscheint. Sondern viel­mehr darin, woher das Bestreben rührt, Praktiken des Designs zu demo­kratisieren und welche diszi­pli­nären Frage­stellungen sich aus dieser Ent­wicklung für Design­forschungs­diskurse ergeben. Welches Ver­ständnis der Rolle von Design existiert in der Industrie? Wie verändert sich die Beziehung zwischen Handelnden und ihren Praktiken, wenn nicht nur profes­sionelle Designer­*innen gestalten, sondern sich durch den Auf­trieb von Design Thinking kreative Praktiken in vielen Bereichen von Organi­sationen verbreiten?

„Die interessante Frage in Bezug auf Design Thinking liegt darin, woher das Bestreben rührt, Praktiken des Designs zu demo­kratisieren und welche diszi­pli­nären Frage­stellungen sich aus dieser Ent­wicklung für Design­forschungs­diskurse ergeben.“

Mit Blick auf die Aus­richtung der Design­ausbildung fordern die Ent­wicklungen auch dazu auf, kritisch zu über­prüfen, welche Spezialisierung in der Design­ausbildung redundant werden oder nicht mehr zeit­gemäß sind. Nicht zuletzt: Lässt die Ent­wicklung einen neuen Raum mit neuartigen Handlungs­feldern eröffnen?

Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie sich die originäre Design-Disziplin gegenüber einer Ent­wicklung verhält, die auch ohne sie statt­findet und deren Gestaltungs-Lead sie (bislang) nicht aufge­nommen hat. Die bisherigen Reaktionen seitens der deutsch­sprachigen Design-Disziplin sind tendenziell verhalten bis kritisch. Einer­seits mehren sich Wünsche danach, sich von Design Thinking und Innovations­aktivitäten in Unter­nehmen zu distan­zieren und statt­dessen weiter zu akademi­sieren. Anderer­seits gibt es Vertreter­*innen, die einen menschen­zentrierten Gestaltungs­ansatz zum Lösen komplexer Probleme vor­schlagen. Sicher gibt es noch weitere Perspektiven, Vorbe­halte oder Anwendungs­felder, die diskursiv gestaltet werden und keinem Entweder-oder folgen sollten. Wünschens­wert wäre es doch, den designt­heoretischen Drei­klang aus Forschung, Lehre und Praxis weiterhin ver­knüpfend-synergetisch zu betrachten, statt sich zu verinseln und die wichtiger werdende Schnitt­stelle von Design, Management und Organisation anderen zu überlassen.

In meiner Arbeit habe ich untersucht, wie der Aufstieg von Design Thinking in einer etablierten Unter­nehmens­praxis wirkt, was unter Design Thinking verstanden wird, um den möglichen Beitrag in Bezug auf die Ver­änderungs­fähigkeit einer Organi­sation zu erkennen – ab 2022 nach­lesbar in einer Publikation im transcript Verlag unter dem Titel „Design Thinking in der Industrie“. Am Beispiel des Volks­wagen Konzerns wird heraus­ge­arbeitet, was eigentlich gemeint ist, wenn etwas als Design Thinking betitelt wird, und davon ausgehend analysiert, welchen Spannungs­feldern Anwender­*innen in der Unternehmens­praxis ausgesetzt sind. Ausgehend davon wird ab­schließend diskutiert, inwiefern Design Thinking in der vor­handenen Anwendungs­form zur Veränderungs­fähigkeit von Unter­nehmen beiträgt. Sie darf als Einladung gelesen werden, die Aktivitäten und das Interesse der Industrie um Design Thinking (mit-)zugestalten. Sie liefert Denk­anstöße, welche Rolle Design in Organi­sationen ein­nehmen kann und welchen Beitrag sie in dieser Rolle zur Innovations­ent­wicklung und Organisations­gestaltung leisten kann. Ich freue mich auf den Diskurs!

Das Buch von Andrea Augsten „Design Thinking in der Industrie. Strategien für den organisationalen Wandel?“ erscheint im Frühjahr 2022 im transcript Verlag.

Dr. Andrea Augsten

leitet das Team für Innovations­manage­ment der Gesellschaft für Internationale Zusammen­arbeit (GIZ) GmbH. Im Rahmen ihrer Arbeit im Bereich Zukunfts­forschung und digitale Trans­formation der Volks­wagen AG absolvierte die Folkwang-Absolventin Forschungs­aufent­halten in Zhuhai und Luzern und promovierte bei Prof. Dr. Sabine Junginger in Design­manage­ment und Organisations­ent­wicklung. Sie ist Vorstands­mitglied der Deutschen Gesellschaft für Design­theorie und -forschung (DGTF), Mitglied des Think Tank 30 des Club of Rome, im Fach­beirat der TH Ingolstadt für User Experience Design und engagiert sich ehren­amt­lich bei Staat-up e.V. für eine moderne Führungs­kultur im öffentlichen Sektor.