DESIGN DISKURS
Gibt es überhaupt Werte im Design? Werden sie ihm irgendwie beigegeben, etwa indem ein an sich neutrales Designobjekt erst durch seinen persönlichen Gebrauch Wert erhielte? Oder ergeben sie sich vielleicht doch auch intrinsisch aus bestimmten Designprodukten?
I. Provokationen
Gibt es überhaupt Werte im Design? – Man könnte geneigt sein, diese Frage reflexhaft abzuwehren und sie selbst für sinnlos zu halten, da es doch offensichtlich scheint, dass die Debatten über den sozialen, ökologischen, politischen und nicht zuletzt moralischen Impact unserer Gestaltungspraktiken gerade heute Konjunktur haben. Doch selbst dort, wo man sich auf diese Weise beruhigen wollte, bliebe eine damit unweigerlich verknüpfte Frage noch unbeantwortet: Wenn ja, wie gibt es denn Werte im Design? – Werden sie ihm irgendwie beigegeben, etwa indem ein an sich neutrales Designobjekt erst durch seinen persönlichen Gebrauch Wert erhielte? Man denkt ebenso reflexhaft an den Entwurf neuer, ‚besserer‘ Waffensysteme und gerät leicht ins Grübeln darüber, ob die Moral erst durch ihren Gebrauch ins Spiel kommt. Sind Werte wirklich nur äußerliche Zusätze im Design oder ergeben sie sich vielleicht doch auch intrinsisch aus bestimmten Designprodukten? Oder wäre wiederum dieses Entweder-Oder selbst problematisch, wenn man sich der Frage nach Designwerten nähern will?
Die Sache ist freilich komplex, in Zeiten einer immer enger vernetzten Gesellschaft mehr denn je. Die damit verbundenen Probleme sind es nicht weniger, zumeist sind sie sogar verhext („wicked“). Nicht anders fasste diesen Sachverhalt seinerzeit schon Vilém Flusser auf, der – als Exorzist und Hexenmeister zugleich – die Designgemeinde damit zu provozieren verstand, dass das Design zwar jede Menge Güter hervorbringen könne, jedoch nichts Gutes an sich. Designobjekte sind für etwas gut, in dem Sinne Mittel zu einem Zweck, doch dadurch könnten sie streng genommen schon gar kein Selbstzweck mehr sein. Sie ermangelten nicht allein reiner Güte, sondern schlimmer noch, konterkarierten sie sogar: „Zwischen der reinen Güte (der ‚kategorischen‘), die zu nichts gut ist, und der angewandten Güte (der ‚funktionellen‘) kann es eigentlich überhaupt keinen Kompromiss geben, weil letzten Endes alles, wozu die angewandte Güte gut ist, kategorisch schlecht ist. Wer sich entschlossen hat, Designer zu werden, der hat sich gegen die reine Güte entschieden.“ 1
Man muss diese Provokation nehmen als das, was sie ist: als Polemik. Und wie jede Polemik nimmt sie manche Dinge zu locker, um andere wiederum zu genau zu nehmen. Flusser polarisiert und verdreht Sachverhalte, lässt dadurch allerdings vorschnell übersehbare Aspekte deutlicher in den Vordergrund treten. In einer hinterlistigen Umkehrung der Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“, sollen es im Design dagegen gewissermaßen die Mittel sein, die sich an einem reinen Zweck versündigen. Nun könnte man leicht diese polemische Argumentation formaliter jener berühmt-berüchtigten Jesuitenlogik zweckgeheiligter Mittel überführen, die sie in der Sache gerade invertiert. Auch spart Flusser nicht mit Tod und Teufel, um dagegen die heile Welt reiner Selbstzwecke in helleren Farben leuchten zu lassen. Doch so bliebe man lediglich in einer Gegenpolemik stecken, die sich am Ende als gänzlich zwecklos erwiese, würde man sich nicht der Frage stellen, ob hier womöglich etwas getroffen ist.
„Flusser polarisiert und verdreht Sachverhalte, lässt dadurch allerdings vorschnell übersehbare Aspekte deutlicher in den Vordergrund treten. In einer hinterlistigen Umkehrung der Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“, sollen es im Design dagegen gewissermaßen die Mittel sein, die sich an einem reinen Zweck versündigen.“
Wie gesagt, die Sache ist komplex und das nicht erst seit gestern. Erinnert man sich nur an die Debatten um den Status des Designs in Abgrenzung von den schönen Künsten, wie sie schon das 19. Jahrhundert durchziehen, dann fällt auch an der Bezeichnung einer „angewandten Kunst“ der latente Vorwurf auf, hier würde eine selbstzweckhafte Autonomie im Alltag vernutzt, ihr schöner Schein mit menschlicher Notdurft befleckt. Noch heute ist es Konsens, dass sich das Design nicht nur die Hände dreckig, sondern zuweilen auch blutig macht, wenn sich die Dialektik von Entwerfen und Unterwerfen in Extreme steigert. Eine entscheidende Frage ist dann – um im Bild zu bleiben –, ob man sich als Designerin die Hände noch in Unschuld waschen kann, oder ob man auf die eine oder andere Weise die Verantwortung letztlich auch zu tragen hat, die dem Design heute als Vermittlungsinstanz von unterschiedlichsten Stakeholdern übergeben wird.
Mit Blick auf Designwerte resultiert daraus vor allem die Frage, ob man überhaupt Pauschalantworten geben kann für all die verwickelten Fälle, die nicht nur das kleinste Balkongemüsebett im Stadtraum mit dem Weltklima zu verbinden erlauben, sondern erst recht für jene, die ein bewusstes Nicht-Entwerfen als Wegentwerfen des Designs selbst nahelegen. Was aus theoretischer Sicht dabei zumindest geraten scheint, ist, schlechte Antworten durch bessere Fragen zu ersetzen. Und eine dieser Fragen lautet eben: Was wären eigentlich die Voraussetzungen dafür, unser Entwerfen als ein wertfreies verstehen zu können? Designwerte – Wozu eigentlich?
II. Abstrakte Gegensätze
Das mag zunächst so klingen, als ob einer umfänglichen Neutralität des Designs in Wertfragen das Wort geredet würde. Das ist nicht der Fall – aber auch nicht das Gegenteil. Vielmehr interessiert hier das Aufkommen eines Wertedenkens im Design, das genauer betrachtet eher auf ein Werteschaffen ‚durch‘ das Design hinausläuft und in diesem verwickelteren Sinne allererst die kapitale Frage nach „Designwerten“ aufwirft.
Um diesen Zusammenhang deutlicher werden zu lassen, treten wir einen erneuten, diesmal ideengeschichtlichen Rückgang in das 19. Jahrhundert an und zwar in jenes industrialisierte Milieu, in dem sich eine bestimmte Trennung geradezu aufdrängen mochte, die im Zuge der Digitalisierung wiederum fragwürdig geworden ist. Gemeint ist die allzu strikte Trennung von Natur und Technik. So war die Industrialisierung insofern eine Zuspitzung bis zum Bruch mit den traditionellen Vorstellungen, als seitdem die zwei Bereiche auf Maximalabstand und geradezu in Opposition zueinander gebracht wurden: Mit der modernen Technik war ein Funktionszusammenhang wirksam geworden, der sich von den natürlichen Gesetzen vor allem dadurch abzusetzen schien, dass die Teleologie der Mechanismen nicht bezweifelt werden konnte. Maschinen funktionieren zwar nach den kausalen Gesetzen der Physik, sind aber so eingerichtet, wie sie eingerichtet sind, allein dadurch, dass sie einem menschlichen Mittel-Zweck-Denken entstammen und ihm dienen sollen; ihre Wirkungen werden intendiert.
Doch diese Disjunktion von zweckgerichteter Technik und Natur hat freilich ihre Tücken, vergegenwärtigt man sich etwa, dass die Frage nach einer ‚natürlichen‘ Teleologie (etwa von Organismen in der Biologie) nie gänzlich abschlägig beantwortet werden konnte. 2
Umgekehrt spricht sogar einiges dafür, dass ihr Gegenbild, eine rein kausale, mechanische Naturauffassung konzeptuell dort ihren Ursprung hat, woher sie auch ihre Bezeichnung erbte. Eine Eins-zu-Eins-Übertragung von menschlichen Techniken in ihren schematischen Funktionszusammenhängen auf die Natur ist allzu evident, jedoch von der entscheidenden Ausnahme betroffen, keinen mittelalterlichen Schöpfer oder antiken Demiurgen (altgriechisch für „Baumeister, Handwerker“), für den das Ganze auch Sinn und Zweck, eben Teleologie besitzt, noch nachweisen zu können oder überhaupt zu wollen. Die Intentionen eines Urhebers sowie seine Existenz selbst bleiben im Dunkeln, unterdessen das Ergebnis als paradoxes ‚Natur-Produkt‘ einem ‚reverse engineering‘ unterzogen wird.
„Maschinen funktionieren zwar nach den kausalen Gesetzen der Physik, sind aber so eingerichtet, wie sie eingerichtet sind, allein dadurch, dass sie einem menschlichen Mittel-Zweck-Denken entstammen und ihm dienen sollen; ihre Wirkungen werden intendiert.“
Worauf wir hier nun zusteuern, indem wir auch diese Verwicklungen von Natur und Technik mit zu bedenken geben, ist jene Vereindeutigung der Verhältnisse selbst noch auf gedanklich-logischer Ebene. So kehrt diese Vereindeutigung im sogenannten ‚naturalistischen Fehlschluss‘ wieder und damit in jener strikten Trennung auch von Sein und Sollen, die sich bei genauerem Hinsehen zugleich als die Matrix eines bis heute anhaltenden Wertedenkens erweist.
Der naturalistische Fehlschluss besagt vereinfacht ausgedrückt, dass sich aus einem natürlichen Ist-Zustand, nicht zugleich ein normativer Soll-Zustand ableiten lässt: Dass etwas der Fall ‚ist‘ (beispielsweise ein Machtgefälle), heißt noch nicht, dass es auch der Fall sein ‚soll‘ (beispielsweise indem man dadurch ein Recht des Stärkeren begründen könnte). Einwände, wie etwa die notwendige Befolgung physikalischer Gesetze, verfangen dabei nicht, da streng genommen gar nicht von einem „Befolgen“ gesprochen werden kann, das auch verweigert werden könnte. Es handelt sich in solchen Fällen um ein Muss, nicht um ein Soll. Ein Anderssein-‚Können‘ (als Kontingenz) ist also vorausgesetzt und darüber hinaus ein Anderssein-‚Sollen‘ (als Gebot) intendiert, sofern von moralischen Werten die Rede sein soll. Sein Pendant besitzt der naturalistische Fehlschluss im sogenannten ‚moralistischen Fehlschluss‘, der umgekehrt von Sollen auf Sein schließt – frei nach Christian Morgensterns ‚Unmöglicher Tatsache‘: „daß nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Beide Fehlschlüsse, so die Kritik, überspringen fälschlicherweise die logische Kluft zwischen Tatsachen und Werten. Stattdessen gilt (zumindest für diese binäre Logik selbst): Werte sind nicht, sondern gelten. Die Natur kennt keine Werte, die Technik hingegen ist mit ihnen eng verbunden, indem ihre Funktionen in den menschlichen Zweckzusammenhang eingelassen sind, ja, aus ihm hervorgehen. Mögen technische Funktionen auch nicht unbedingt identisch mit menschlichen Zwecken sein, so verlangen doch Erstere gleichsam eine Ausrichtung an Letzteren, wobei die Richtwerte eben die jeweilig in Geltung stehenden Werte sind. – So weit, so einfach.
Kommen wir von hier aus erneut auf das Verhältnis von Natur und Technik zu sprechen, verkompliziert sich jedoch der Sachverhalt abermals schon allein durch die Frage, was man dann dagegen eigentlich unter „Natur“ verstehen will. Mögen auch für die anorganische Natur zunächst physikalische Gesetze gelten, die keine Alternative oder Ausnahme gestatten, gerät man in Anbetracht der organischen Natur, wie die Wechselwirkung von Organen im Organismus bereits nahelegt, in gewisse Erklärungsnöte: So hatte schon Kant an prominenter Stelle 3 Bedenken angemeldet, dass sich das Phänomen des Lebendigen nicht hinreichend aus bloßen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen verständlich machen lässt. Stattdessen würde man bereits durch den tatsächlichen Phänomenbestand dazu angehalten, den Kausalgesetzen im Stoffwechsel eines Organismus zumindest eine ungewisse Teleologie im Verhältnis Ganze-Teile zu unterstellen – geschähe dies auch nur projektiv, aus rein heuristischen Gründen.
„Die Natur kennt keine Werte, die Technik hingegen ist mit ihnen eng verbunden, indem ihre Funktionen in den menschlichen Zweckzusammenhang eingelassen sind, ja, aus ihm hervorgehen.“
Noch vertrackter wird die Angelegenheit dadurch, dass umgekehrt das Konzept der Teleologie nach der klassischen Definition Kants – wonach der Zweck zugleich die primäre Ursache seiner Bewirkung ist – wiederrum nicht ohne das Konzept der Kausalität auskommt, auch wenn die bloße Kausalität von Ursache und Wirkung (chemischer Stoffwechsel) durch den intendierten Zweck (etwa der Ernährung) zu einem Mittel seiner Erreichung wird, also quasi instrumentalisiert wird. Könnte man in solchen Fällen also davon sprechen, dass die Teleologie zugleich Kausalität auf die Kausalität hat? Eine ‚zeitverkehrte‘ Kausalität, die von einem noch Zukünftigem her schon auf die Gegenwart (als der relativen Vergangenheit dieses Zukünftigen) wirkt, um die gegenwärtigen Ursachen wiederum auf seine eigene Bewirkung (die des erst Zukünftigen) abzwecken zu lassen? Vor allem aber: Kommen Sein und Sollen im ‚tatsächlich‘ verwirklichten Zweck nur äußerlich zur Deckung oder sind sie innerlich sogar eins? 4
Fragen über Fragen, zudem philosophische, könnte man meinen, wäre damit nicht zugleich die Frage nach der Fraglichkeit besagter Trennung von Natur und Technik, Tatsache und Wert oder auch Sein und Sollen verknüpft, mit der man sich nicht erst in theoretischen Spekulationen, sondern heute schon in der alltäglichsten Gestaltungspraxis konfrontiert sieht.
III. Verschränkungen
Wie gesagt, abermals: Es ist kompliziert und zwar so kompliziert, dass die vermeintlich saubere Trennung von Natur und Technik unser Naturverständnis (sowie Technikverständnis) eher erschwert. Natur ist weder bloßer Kausalmechanismus, noch transparente Teleologie; umgekehrt gilt damit aber auch für die Technik, dass sie weder auf ein rein intentionales Artefakt, noch auf ein natürliches Funktionsgewächs reduziert werden kann. – Doch heißt das schon, dass Sein und Sollen sich in der gesamten Natur durchdringen? Dass selbst bloße physikalische Tatsachen zugleich Werte verkörpern?
Geht man nun diesen letzten Schritt weiter und vergegenwärtigt sich die Gesetzmäßigkeiten der Quantentheorie, scheint selbst eine anorganische Natur kausaler Mechaniken an Trennschärfe zu verlieren. Es tut sich ein ganzes Universum an Unschärferelationen und nicht zuletzt an Fragen auf, die wir hier jedoch aussparen müssen. Und dennoch lassen sich gewisse Konsequenzen aus diesen Unbestimmtheiten ziehen, die zumindest auf indirekte Weise die Designwertefrage zu schärfen erlauben. Was Natur heute ist oder sein soll, lässt sich nicht allein aus geologischen Gesichtspunkten kaum noch ohne den Menschen beantworten. Schon auf Quantenebene zeigen sich Wechselwirkungen und Interferenzen, die auch den Sein-Sollens-Fehlschluss in gewissen Hinsichten einschränken und die bloß geltenden Werte in ihrem Gemacht-Sein in Erscheinung treten lassen.
Wie vor allem Karen Barad (als promovierte Teilchenphysikerin und renommierte Wissenschaftstheoretikerin) mit ihren Konzepten der „Intraaktion“ und des „agentischen Schnitts“ dargelegt hat, 5 kommt es bereits im physikalischen Mikrokosmos zu grundlegenden „Verschränkungen“. Diese verbinden nun nicht äußerlich für sich bestehende Entitäten; umgekehrt werden diese Entitäten als Relata einer vorgängigen Relation allererst ‚entbunden‘, wie man sagen könnte, indem die (ebenso ideellen wie materiellen) Forschungsapparate „Schnitte“ vornehmen (und nicht selten auch ‚Epochen‘ markieren), durch die die Theorien und Praktiken sowie Subjekte und Objekte unserer Weltverhältnisse ‚re-kon-figuriert‘ werden.
Barad setzt also förmlich am Nabel unserer bisher erschlossenen Welt an, um zugleich auf ein wortwörtliches ‚Forschungsdesign‘ von operationellen Präfigurationen zu reflektieren, die bis in unsere gesellschaftlichen Selbstentwürfe inmitten einer „queeren Performativität der Natur“ 6 fortwirken. 7 Hierbei sind Technik und Natur, aber auch Theorie und Praxis dergestalt miteinander verschränkt, dass die apparativ materialisierte Theorie in der experimentellen Praxis als „lebende und atmende Neugestaltungen der Welt“ aufgefasst werden kann: „Die Welt theorisiert sich und experimentiert mit sich selbst. Gestalten, wiedergestalten.“ 8 – Das hat nun nicht nur einschneidende Auswirkungen auf eine vermeintlich saubere Trennbarkeit von Natur und Technik, sondern eröffnet gleichermaßen Perspektiven auf eine Ethik diesseits (statt jenseits) des Sein-Sollens-Fehlschlusses:
„Verschränkungen sind kein Name für die Verbundenheit aller Dinge als Eins, sondern vielmehr spezifische, materielle Beziehungen der fortlaufenden Differenzierung der Welt. […] Vor allem ist es in dieser Erklärung von Materialität unmöglich, Ethik zu entrinnen. Ethik ist ein integraler Bestandteil der Interferenzmuster (also fortwährender Differenzierungsmuster) des Weltmachens, nicht eine Überlagerung menschlicher Werte auf die Ontologie der Welt (als ob ‚Tatsache‘ und ‚Wert‘ radikal verschieden wären). Eben das Wesen von Materie bedingt es, dem anderen ausgesetzt zu sein. Verantwortlichkeit ist keine Verpflichtung, die das Subjekt wählt, sondern eine verkörperte Beziehung, die der Intentionalität von Bewusstsein vorausgeht. Verantwortlichkeit ist keine anzustellende Berechnung. Sie ist eine Beziehung und immer schon im fortwährenden Werden und Nichtwerden von Welt enthalten. Verantwortlichkeit bedeutet das iterative (Wieder)Öffnen von Möglichkeiten zugunsten der Verantwortbarkeit.“ 9
„Wie vor allem Karen Barad mit ihren Konzepten der „Intraaktion“ und des „agentischen Schnitts“ dargelegt hat, kommt es bereits im physikalischen Mikrokosmos zu grundlegenden „Verschränkungen“.“
Mit dieser Ethik der Verantwortbarkeit ist zugleich eine latente Absetzung gegenüber dem verbunden, was wir bisher im Wortfeld der Moral thematisiert haben. Unter diesen Voraussetzungen ist eine ‚Werteethik‘ soviel wie keine, da nicht erst Barad auf eine wesentliche Verkörperung abhebt, die sich zugleich im Altgriechischen ‚ethos‘ wiederfindet: Ethos meint erworbene Haltung als sittliches Weltverhältnis und zwar in einer geradezu leiblichen Verschränkung mit dem/der Anderen; ein Gegen-Ein-Ander-Über (wie man in Anlehnung an Goethe formulieren könnte), das durch sich (hindurch) Welt austrägt; Weltmachen (bzw. ‚worldbuilding‘, ‚worldmaking‘) in der Wechselwirkung von Bildung und Gestaltung als zwei Seiten derselben rekonfigurativen Performativität von ‚natürlich-technischen‘ Metamorphosen. 10
Werte dagegen scheinen nicht von Ungefähr auch bei Barad einer Moral der Verpflichtungen und Berechnungen zu unterliegen, reinstanziieren sie doch besagte Trennung in Form einer Abstraktion, deren Geltung seine wörtliche und sachliche Entsprechung in der Ökonomie des Geldes hat. Geld ist die arbiträre Verkörperung von Tauschwerten, dessen Gebrauchswert wiederum darin besteht, alle singulären Gebrauchswerte in Äquivalenzen aufzulösen (beginnend schon damit, überhaupt von einem „Gebrauchswert“ zu sprechen). Das ist nichts Schlechtes, sogar äußerst nützlich – jedoch auch nicht mehr als nützlich und damit zugleich zu wenig, um eine Ethik des Designs, anstelle einer ökonomistisch-utilitaristischen Moral des ‚aufgeklärten Warenfetischismus‘ unserer Tage stützen zu können. Wolfgang Fritz Haugs pauschale ‚Kritik der Warenästhetik‘ behielte wohl recht, hätte Design nur einen Wert und Werte, anstatt darüber hinaus Sinn und Sinnlichkeit zu ‚sein‘.
In diesem Sinne ist die Frage nach „Werten im Design“ leicht irreführend und umgekehrt unsere einleitende Frage: „Gibt es überhaupt Werte im Design?“ auf intrikate, wenngleich aufschlussreiche Weise mit dem Wie des Gegebenseins von Werten im Design verbandelt: Es braucht nicht erst zusätzliche Werte, die das Design aus seiner vermeintlichen, von Flusser gescholtenen Neutralität reiner Funktionalität und Bosheit, quasi aus dem technologischen Naturzustand, emporheben müssten. Vielmehr ist das Design schon von seiner Natur her eine Kulturtechnik, die ‚Werte‘ – wenn auch nicht gänzlich eigenmächtig – durch sich, mit sich und in sich ‚schöpft‘. Ob dieser durchgestaltete Kulturzustand wiederum als alter Sündenstand oder neuer Stand der Unschuld verstanden werden soll, mag jemand anderes entscheiden. Designwerte jedenfalls, welchen Dekalog man auch aufsetzen will, ergeben sich schon aus einem ‚Wertdesign‘ ‚by nature‘, das mit dem bloßen Handeln und Verhandeln von ökonomischen, ökologischen, politischen etc. Wertmarken soviel und zugleich sowenig zu tun hat, wie die historischen und strukturellen Gelingensbedingungen des heutigen Kapitalismus mit denen des guten Lebens.
„Vielmehr ist das Design schon von seiner Natur her eine Kulturtechnik, die ‚Werte‘ – wenn auch nicht gänzlich eigenmächtig – durch sich, mit sich und in sich ‚schöpft‘.“
Im Zuge der industriellen Revolution hat sich ein Denken und Gestalten verschärft, dass auf der Basis abstrakter Gegensätze und in anhaltenden Wertdebatten zugleich seine eigene Weltverlorenheit verhandelt – irgendwo zwischen trägen Naturalisierungen und vorschnellen Konstruktivismen. Bleibt zu hoffen, dass die Wertdebatte im Design irgendwann ihrer selbst ansichtig wird und zwar als an sich wertloses Addendum einer schon intrinsisch sinnvollen Gestaltungspraxis inmitten eines mehr als bloß begüterten Lebens. Die entsprechende Gestaltungstheorie hätte sich erst einmal wieder für sie zu ‚sensibilisieren‘. Denn ihre wesentliche Frage harrt noch heute einer Beantwortung: Was heißt eigentlich Gestalt?