Golden AK 47, aus dem Sadam Hussein Umfeld. Bild: Naval History & Heritage Command Washington, DC, USA, Rifle, Tabuk, Iraq, via Wikipedia

DESIGN DISKURS

Gibt es über­haupt Werte im Design? Werden sie ihm irgend­wie bei­ge­geben, etwa indem ein an sich neu­trales Design­objekt erst durch seinen per­sön­lichen Ge­brauch Wert er­hielte? Oder er­geben sie sich viel­leicht doch auch in­trin­sisch aus be­stim­mten Design­produkten?

Veröffentlicht am 03.04.2023

I. Provokationen

Gibt es über­haupt Werte im Design? – Man könnte geneigt sein, diese Frage reflex­haft ab­zu­wehren und sie selbst für sinn­los zu halten, da es doch offen­sicht­lich scheint, dass die De­batten über den sozialen, öko­logischen, polit­ischen und nicht zu­letzt moral­ischen Im­pact unserer Gestalt­ungs­prak­tiken gerade heute Kon­junk­tur haben. Doch selbst dort, wo man sich auf diese Weise be­ruhi­gen wollte, bliebe eine damit un­weiger­lich ver­knüpf­te Frage noch un­be­ant­wortet: Wenn ja, wie gibt es denn Werte im Design? – Werden sie ihm irgend­wie bei­ge­geben, etwa indem ein an sich neutrales Design­objekt erst durch seinen per­sön­lichen Ge­brauch Wert er­hielte? Man denkt ebenso reflex­haft an den Ent­wurf neuer, ‚besserer‘ Waffen­systeme und gerät leicht ins Grübeln darüber, ob die Moral erst durch ihren Ge­brauch ins Spiel kommt. Sind Werte wirk­lich nur äußer­liche Zu­sätze im Design oder er­geben sie sich viel­leicht doch auch in­trin­sisch aus bestimmten Design­pro­dukten? Oder wäre wieder­um dieses Ent­weder-Oder selbst pro­blem­atisch, wenn man sich der Frage nach Design­werten nähern will?

Die Sache ist frei­lich kom­plex, in Zeiten einer immer enger ver­netzt­en Gesell­schaft mehr denn je. Die damit ver­bun­denen Pro­bleme sind es nicht weniger, zu­meist sind sie sogar ver­hext („wicked“). Nicht anders fasste diesen Sach­ver­halt seiner­zeit schon Vilém Flusser auf, der – als Exor­zist und Hexen­meister zu­gleich – die Design­ge­mein­de damit zu provo­zieren ver­stand, dass das Design zwar jede Menge Güter her­vor­bringen könne, jedoch nichts Gutes an sich. Design­ob­jekte sind für etwas gut, in dem Sinne Mittel zu einem Zweck, doch da­durch könnten sie streng genom­men schon gar kein Selbst­zweck mehr sein. Sie erman­gel­ten nicht allein reiner Güte, sondern schlim­mer noch, konter­karier­ten sie sogar: „Zwischen der reinen Güte (der ‚kate­gor­ischen‘), die zu nichts gut ist, und der ange­wand­ten Güte (der ‚funktio­nellen‘) kann es eigent­lich über­haupt keinen Kom­pro­miss geben, weil letzten Endes alles, wozu die ange­wandte Güte gut ist, kate­gorisch schlecht ist. Wer sich ent­schlos­sen hat, Designer zu werden, der hat sich gegen die reine Güte ent­schieden.“ 1

 Man muss diese Provo­kation nehmen als das, was sie ist: als Polemik. Und wie jede Polemik nimmt sie manche Dinge zu locker, um andere wieder­um zu genau zu nehmen. Flusser polari­siert und ver­dreht Sach­ver­halte, lässt dadurch aller­dings vor­schnell über­seh­bare As­pekte deut­licher in den Vor­der­grund treten. In einer hinter­listigen Um­kehr­ung der Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“, sollen es im Design dagegen gewisser­maßen die Mittel sein, die sich an einem reinen Zweck ver­sündigen. Nun könnte man leicht diese polem­ische Argumen­ta­tion forma­liter jener berühmt-berücht­igten Jesuiten­logik zweck­geheilig­ter Mittel über­führen, die sie in der Sache gerade in­ver­tiert. Auch spart Flusser nicht mit Tod und Teufel, um da­gegen die heile Welt reiner Selbst­zwecke in hell­eren Farben leuchten zu lassen. Doch so bliebe man ledig­lich in einer Gegen­polem­ik stecken, die sich am Ende als gänzlich zweck­los erwiese, würde man sich nicht der Frage stellen, ob hier wo­mög­lich etwas ge­troffen ist.

„Flusser polarisiert und verdreht Sach­verhalte, lässt da­durch aller­dings vor­schnell über­seh­bare Aspekte deut­licher in den Vorder­grund treten. In einer hinter­listigen Um­kehrung der Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“, sollen es im Design dagegen gewisser­maßen die Mittel sein, die sich an einem reinen Zweck ver­sündigen.“

Wie gesagt, die Sache ist kom­plex und das nicht erst seit gestern. Erin­nert man sich nur an die Debatten um den Status des Designs in Abgren­zung von den schönen Kün­sten, wie sie schon das 19. Jahr­hun­dert durch­ziehen, dann fällt auch an der Be­zeich­nung einer „ange­wand­ten Kunst“ der latente Vor­wurf auf, hier würde eine selbst­zweck­hafte Auto­no­mie im All­tag ver­nutzt, ihr schöner Schein mit mensch­licher Not­durft be­fleckt. Noch heute ist es Kon­sens, dass sich das Design nicht nur die Hände dreckig, sondern zu­weilen auch blutig macht, wenn sich die Dialek­tik von Ent­werfen und Unter­wer­fen in Extreme steigert. Eine ent­scheidende Frage ist dann – um im Bild zu bleiben –, ob man sich als Design­erin die Hände noch in Un­schuld waschen kann, oder ob man auf die eine oder andere Weise die Verant­wort­ung letzt­lich auch zu tragen hat, die dem Design heute als Vermitt­lungs­in­stanz von unter­schied­lichsten Stake­holdern über­geben wird.

Mit Blick auf Design­werte resul­tiert daraus vor allem die Frage, ob man über­haupt Pau­schal­ant­worten geben kann für all die ver­wickel­ten Fälle, die nicht nur das kleinste Balkon­ge­müse­bett im Stadt­raum mit dem Welt­klima zu ver­binden erlauben, sondern erst recht für jene, die ein be­wusstes Nicht-Ent­werfen als Weg­ent­werfen des Designs selbst nahe­legen. Was aus theo­ret­ischer Sicht dabei zumin­dest ge­raten scheint, ist, schlechte Ant­worten durch bessere Fragen zu er­setzen. Und eine dieser Fragen lautet eben: Was wären eigentlich die Voraus­setz­ungen dafür, unser Ent­werfen als ein wert­freies ver­stehen zu können? Design­werte – Wozu eigent­lich?

Die mechanische Ente von Vaucanson. Bild: Photographie personnelle from Les automates: figures artificielles d'hommes et d'animaux, histoire et technique by Alfred Chapuis and Edmond Droz (1949) via Wikipedia

II. Abstrakte Gegensätze

Das mag zu­nächst so klingen, als ob einer um­fäng­lichen Neu­trali­tät des Designs in Wert­fragen das Wort geredet würde. Das ist nicht der Fall – aber auch nicht das Gegen­teil. Viel­mehr interes­siert hier das Auf­kom­men eines Werte­denkens im Design, das ge­nauer be­trachtet eher auf ein Werte­schaffen ‚durch‘ das Design hinaus­läuft und in diesem ver­wickelt­eren Sinne aller­erst die kapi­tale Frage nach „Design­werten“ aufwirft.

Um diesen Zusam­men­hang deut­licher werden zu lassen, treten wir einen er­neuten, dies­mal ideen­geschicht­lichen Rück­gang in das 19. Jahr­hundert an und zwar in jenes indus­triali­sierte Milieu, in dem sich eine be­stim­mte Tren­nung gerade­zu auf­drängen mochte, die im Zuge der Digitali­sierung wieder­um frag­würdig ge­worden ist. Gemeint ist die allzu strikte Tren­nung von Natur und Technik. So war die Industri­ali­sier­ung in­so­fern eine Zu­spitz­ung bis zum Bruch mit den traditio­nellen Vor­stell­ungen, als seit­dem die zwei Be­reiche auf Maximal­ab­stand und gerade­zu in Opposi­tion zuein­ander ge­bracht wurden: Mit der modernen Technik war ein Funktions­zu­sammen­hang wirk­sam ge­worden, der sich von den natür­lichen Ge­setzen vor allem da­durch abzu­setzen schien, dass die Tele­ologie der Mechanis­men nicht be­zweifelt werden konnte. Maschinen funktio­nieren zwar nach den kausalen Gesetzen der Physik, sind aber so einge­richtet, wie sie einge­richtet sind, allein da­durch, dass sie einem men­schlichen Mittel-Zweck-Denken ent­stam­men und ihm dienen sollen; ihre Wirk­ungen werden intendiert.

Doch diese Dis­junktion von zweck­ge­richteter Tech­nik und Natur hat frei­lich ihre Tücken, ver­gegen­wärtigt man sich etwa, dass die Frage nach einer ‚natür­lichen‘ Tele­ologie (etwa von Organis­men in der Bio­logie) nie gänz­lich ab­schlägig beant­wortet werden konnte. 2

Umge­kehrt spricht sogar einiges dafür, dass ihr Gegen­bild, eine rein kau­sale, mechan­ische Natur­auf­fassung kon­zep­tuell dort ihren Ur­sprung hat, woher sie auch ihre Bezeich­nung erbte. Eine Eins-zu-Eins-Über­trag­ung von mensch­lichen Tech­niken in ihren schemat­ischen Funk­tions­­zu­sammen­hängen auf die Natur ist allzu evi­dent, je­doch von der ent­scheiden­den Aus­nahme be­trof­fen, keinen mittel­alter­lichen Schöpfer oder antiken Demi­urgen (alt­griechisch für „Bau­meister, Hand­werker“), für den das Ganze auch Sinn und Zweck, eben Tele­ologie besitzt, noch nach­weisen zu können oder über­haupt zu wollen. Die Intenti­onen eines Ur­hebers sowie seine Exis­tenz selbst bleiben im Dunk­eln, unter­dessen das Ergeb­nis als para­doxes ‚Natur-Produkt‘ einem ‚reverse engineering‘ unter­zogen wird.

„Maschinen funktio­nieren zwar nach den kausalen Gesetzen der Physik, sind aber so einge­richtet, wie sie einge­richtet sind, allein dadurch, dass sie einem mensch­lichen Mittel-Zweck-Denken ent­stam­men und ihm dienen sollen; ihre Wirk­ungen werden intendiert.“

Worauf wir hier nun zu­steuern, indem wir auch diese Ver­wick­lungen von Natur und Technik mit zu bedenken geben, ist jene Ver­ein­deut­igung der Ver­hält­nisse selbst noch auf gedank­lich-logischer Ebene. So kehrt diese Ver­ein­deuti­gung im soge­nan­nten ‚natur­alis­tischen Fehl­schluss‘ wieder und damit in jener strikten Tren­nung auch von Sein und Sollen, die sich bei genau­erem Hin­sehen zugleich als die Matrix eines bis heute an­halten­den Werte­denkens erweist.

Der naturalis­tische Fehl­schluss besagt verein­facht ausge­drückt, dass sich aus einem natür­lichen Ist-Zustand, nicht zu­gleich ein norma­tiver Soll-Zu­stand ab­leiten lässt: Dass etwas der Fall ‚ist‘ (beispiels­weise ein Macht­ge­fälle), heißt noch nicht, dass es auch der Fall sein ‚soll‘ (beispiels­weise indem man dadurch ein Recht des Stärkeren be­grün­den könnte). Ein­wände, wie etwa die not­wendige Befol­gung physi­kal­ischer Ge­setze, verfangen dabei nicht, da streng ge­nommen gar nicht von einem „Befol­gen“ ge­sprochen werden kann, das auch ver­weigert werden könnte. Es handelt sich in solchen Fällen um ein Muss, nicht um ein Soll. Ein Anders­sein-‚Können‘ (als Kontin­genz) ist also voraus­ge­setzt und darüber hinaus ein Anders­sein-‚Sollen‘ (als Gebot) inten­diert, sofern von moral­ischen Werten die Rede sein soll. Sein Pen­dant besitzt der natur­alis­tische Fehl­schluss im so­ge­nan­nten ‚moralis­tischen Fehl­schluss‘, der umge­kehrt von Sollen auf Sein schließt – frei nach Christian Morgen­sterns ‚Un­mög­licher Tatsache‘: „daß nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Beide Fehlschlüsse, so die Kritik, über­springen fälschlicher­weise die logische Kluft zwischen Tat­sachen und Werten. Statt­dessen gilt (zumin­dest für diese binäre Logik selbst): Werte sind nicht, sondern gelten. Die Natur kennt keine Werte, die Technik hin­gegen ist mit ihnen eng ver­bunden, indem ihre Funktio­nen in den men­sch­­lichen Zweck­zusam­men­hang ein­ge­lassen sind, ja, aus ihm hervor­gehen. Mögen technische Funkti­onen auch nicht unbe­dingt identisch mit mensch­lichen Zwecken sein, so verlangen doch Erstere gleich­sam eine Aus­richtung an Letzt­eren, wobei die Richt­werte eben die jeweilig in Geltung stehenden Werte sind. – So weit, so einfach.

Kommen wir von hier aus erneut auf das Verhält­nis von Natur und Technik zu sprechen, ver­kompli­ziert sich jedoch der Sach­ver­halt abermals schon allein durch die Frage, was man dann da­gegen eigent­lich unter „Natur“ ver­stehen will. Mögen auch für die anor­ganische Natur zu­nächst physikal­ische Ge­setze gelten, die keine Alter­native oder Aus­nahme ge­stat­ten, gerät man in Anbe­tracht der organischen Natur, wie die Wechsel­wirk­ung von Organen im Organis­mus bereits nahelegt, in gewisse Er­klärungs­nöte: So hatte schon Kant an promi­nen­ter Stelle 3 Be­denken angemeldet, dass sich das Phänomen des Lebendigen nicht hinreichend aus bloßen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen verständlich machen lässt. Stattdessen würde man bereits durch den tat­säch­lichen Phänomen­be­stand dazu ange­halten, den Kausal­gesetzen im Stoff­wechsel eines Organis­mus zu­mindest eine ungewisse Tele­ologie im Verhältnis Ganze-Teile zu unter­stellen – geschähe dies auch nur pro­jektiv, aus rein heuristischen Gründen.

„Die Natur kennt keine Werte, die Technik hin­gegen ist mit ihnen eng ver­bunden, indem ihre Funktionen in den mensch­lichen Zweck­zusam­men­hang ein­ge­lassen sind, ja, aus ihm hervorgehen.“

Noch vertrack­ter wird die Ange­legen­heit dadurch, dass umge­kehrt das Konzept der Tele­ologie nach der klas­sischen Defini­tion Kants – wo­nach der Zweck zu­gleich die primäre Ur­sache seiner Be­wirkung ist – wieder­rum nicht ohne das Kon­zept der Kausali­tät aus­kommt, auch wenn die bloße Kausali­tät von Ur­sache und Wirk­ung (chemischer Stoff­wechsel) durch den inten­dierten Zweck (etwa der Ernähr­ung) zu einem Mittel seiner Er­reichung wird, also quasi instru­mentali­siert wird. Könnte man in solchen Fällen also davon sprechen, dass die Tele­ologie zugleich Kausali­tät auf die Kausali­tät hat? Eine ‚zeit­ver­kehrte‘ Kausali­tät, die von einem noch Zu­künft­igem her schon auf die Gegen­wart (als der relativen Ver­gangen­heit dieses Zukünft­igen) wirkt, um die gegen­wärtigen Ur­sachen wieder­um auf seine eigene Be­wirkung (die des erst Zukünft­igen) ab­zwecken zu lassen? Vor allem aber: Kommen Sein und Sollen im ‚tat­sächlich‘ verwirk­lichten Zweck nur äußer­lich zur Deckung oder sind sie inner­lich sogar eins? 4

Fragen über Fragen, zudem philo­sophische, könnte man meinen, wäre damit nicht zu­gleich die Frage nach der Frag­lichkeit besagter Tren­nung von Natur und Tech­nik, Tat­sache und Wert oder auch Sein und Sollen ver­knüpft, mit der man sich nicht erst in theoret­ischen Speku­la­tio­nen, sondern heute schon in der all­täg­lichsten Gestaltungs­praxis kon­frontiert sieht.

Atom. Bild: etsystatic.com

III. Verschränkungen

Wie gesagt, aber­mals: Es ist kompli­ziert und zwar so kompli­ziert, dass die ver­meint­lich saubere Tren­nung von Natur und Tech­nik unser Natur­ver­ständ­nis (sowie Technik­ver­ständ­nis) eher er­schwert. Natur ist weder bloßer Kausal­mecha­nis­mus, noch tran­sparente Tele­ologie; umge­kehrt gilt damit aber auch für die Technik, dass sie weder auf ein rein intentio­nales Arte­fakt, noch auf ein natür­liches Funktions­ge­wächs redu­ziert werden kann. – Doch heißt das schon, dass Sein und Sollen sich in der gesamten Natur durch­drin­gen? Dass selbst bloße physikalische Tat­sachen zu­gleich Werte ver­körpern?

Geht man nun diesen letzten Schritt weiter und ver­gegen­wärtigt sich die Gesetz­mäßig­keiten der Quanten­theorie, scheint selbst eine an­organ­ische Natur kausaler Mechan­iken an Trenn­schärfe zu ver­lieren. Es tut sich ein ganzes Uni­ver­sum an Un­schärfe­relat­ionen und nicht zuletzt an Fragen auf, die wir hier jedoch aus­sparen müssen. Und den­noch lassen sich gewisse Kon­se­quen­zen aus diesen Un­bestimmt­heiten ziehen, die zumin­dest auf indirekte Weise die Design­werte­frage zu schärfen erlauben. Was Natur heute ist oder sein soll, lässt sich nicht allein aus geo­logischen Gesichts­punkten kaum noch ohne den Menschen beant­worten. Schon auf Quanten­ebene zeigen sich Wechsel­wirkungen und Inter­feren­zen, die auch den Sein-Sollens-Fehl­schluss in gewissen Hin­sichten ein­schränk­en und die bloß geltenden Werte in ihrem Gemacht-Sein in Erschein­ung treten lassen.

Wie vor allem Karen Barad (als promo­vierte Teilchen­physik­erin und re­nom­mierte Wissen­schafts­theo­retik­erin) mit ihren Kon­zepten der „Intra­aktion“ und des „agent­ischen Schnitts“ dar­gelegt hat, 5 kommt es bereits im physikal­ischen Mikro­kosmos zu grund­legenden „Ver­schränk­ungen“. Diese ver­binden nun nicht äußer­lich für sich bestehende Enti­täten; umge­kehrt werden diese Entitäten als Relata einer vorgän­gigen Relation aller­erst ‚ent­bunden‘, wie man sagen könnte, indem die (ebenso ideellen wie materi­ellen) Forschungs­apparate „Schnitte“ vor­nehmen (und nicht selten auch ‚Epochen‘ markieren), durch die die Theorien und Praktiken sowie Subjekte und Objekte unserer Welt­ver­hältnisse ‚re-kon-figuriert‘ werden.

Barad setzt also förm­lich am Nabel unserer bisher er­schlos­senen Welt an, um zu­gleich auf ein wort­wört­liches ‚Forschungs­design‘ von operatio­nellen Prä­figura­tionen zu reflek­tieren, die bis in unsere gesell­schaft­lichen Selbst­ent­würfe in­mitten einer „queeren Performativität der Natur“ 6 fort­wirken. 7 Hierbei sind Tech­nik und Natur, aber auch Theorie und Praxis der­gestalt mit­einander ver­schränkt, dass die apparativ materia­li­sierte Theorie in der experimen­tellen Praxis als „lebende und atmende Neu­ge­stalt­ungen der Welt“ auf­ge­fasst werden kann: „Die Welt theo­risiert sich und ex­peri­men­tiert mit sich selbst. Gestalten, wieder­gestalten.“ 8 – Das hat nun nicht nur ein­schneidende Aus­wirkungen auf eine ver­meintlich saubere Trenn­barkeit von Natur und Technik, sondern eröffnet gleicher­maßen Per­spek­tiven auf eine Ethik dies­seits (statt jenseits) des Sein-Sollens-Fehl­schlusses:

„Verschränkungen sind kein Name für die Verbunden­heit aller Dinge als Eins, sondern viel­mehr spezif­ische, materielle Be­zieh­ungen der fort­laufenden Differen­zierung der Welt. […] Vor allem ist es in dieser Erklär­ung von Materi­alität un­möglich, Ethik zu entrinnen. Ethik ist ein integraler Bestand­teil der Interferenz­muster (also fort­währender Differen­zierungs­muster) des Welt­machens, nicht eine Über­lager­ung mensch­licher Werte auf die Onto­logie der Welt (als ob ‚Tat­sache‘ und ‚Wert‘ radikal ver­schieden wären). Eben das Wesen von Materie bedingt es, dem anderen aus­ge­setzt zu sein. Verant­wort­lich­keit ist keine Ver­pflicht­ung, die das Subjekt wählt, sondern eine ver­körperte Be­ziehung, die der Intentio­nali­tät von Bewusst­sein voraus­geht. Verant­wort­lich­keit ist keine anzu­stellende Berech­nung. Sie ist eine Bezieh­ung und immer schon im fort­währenden Werden und Nicht­werden von Welt ent­halten. Verant­wort­lich­keit bedeutet das iterative (Wieder)Öffnen von Möglich­keiten zugun­sten der Verant­wort­barkeit.“ 9

„Wie vor allem Karen Barad mit ihren Kon­zepten der „Intra­aktion“ und des „agent­ischen Schnitts“ dargelegt hat, kommt es bereits im physikal­ischen Mikro­kosmos zu grund­legenden „Ver­schränkungen“.“

Mit dieser Ethik der Verant­wort­bar­keit ist zugleich eine latente Ab­setz­ung gegenüber dem ver­bunden, was wir bisher im Wort­feld der Moral thematisiert haben. Unter diesen Voraus­setz­ungen ist eine ‚Werteethik‘ soviel wie keine, da nicht erst Barad auf eine wesentliche Ver­kör­per­ung abhebt, die sich zugleich im Altgriechischen ‚ethos‘ wieder­findet: Ethos meint er­wor­be­ne Halt­ung als sittliches Welt­verhältnis und zwar in einer geradezu leib­lichen Ver­schränk­ung mit dem/der Anderen; ein Gegen-Ein-Ander-Über (wie man in Anlehnung an Goethe formu­lier­en könnte), das durch sich (hin­durch) Welt aus­trägt; Welt­machen (bzw. ‚world­building‘, ‚world­making‘) in der Wechsel­wirkung von Bildung und Gestalt­ung als zwei Seiten derselben re­kon­figura­tiven Per­formativi­tät von ‚natürlich-technischen‘ Meta­morphosen. 10

Werte dagegen scheinen nicht von Un­gefähr auch bei Barad einer Moral der Ver­pflicht­ungen und Berech­nun­gen zu unter­liegen, re­instanzi­ieren sie doch besagte Tren­nung in Form einer Abstrak­tion, deren Geltung seine wört­liche und sach­liche Ent­sprechung in der Öko­no­mie des Geldes hat. Geld ist die arbiträre Ver­körper­ung von Tausch­werten, dessen Gebrauchs­wert wieder­um darin besteht, alle singu­lären Gebrauchs­werte in Äqui­va­lenzen auf­zu­lösen (be­gin­nend schon damit, über­haupt von einem „Gebrauchs­wert“ zu sprechen). Das ist nichts Schlechtes, sogar äußerst nütz­lich – jedoch auch nicht mehr als nütz­lich und damit zugleich zu wenig, um eine Ethik des Designs, anstelle einer öko­nomis­tisch-utilitaris­tischen Moral des ‚aufge­klärten Waren­fetischis­mus‘ unserer Tage stützen zu können. Wolfgang Fritz Haugs pauschale ‚Kritik der Waren­ästhetik‘ behielte wohl recht, hätte Design nur einen Wert und Werte, anstatt darüber hinaus Sinn und Sinn­lichkeit zu ‚sein‘.

Inflationsgeld. Bild: Reichsbank via Wikipedia

In diesem Sinne ist die Frage nach „Werten im Design“ leicht irre­führend und um­ge­kehrt un­sere ein­leiten­de Frage: „Gibt es über­haupt Werte im Design?“ auf intri­kate, wenn­gleich auf­schluss­reiche Weise mit dem Wie des Ge­geben­seins von Werten im Design ver­ban­delt: Es braucht nicht erst zusätz­liche Werte, die das Design aus seiner vermeint­lichen, von Flusser geschol­tenen Neu­trali­tät reiner Funktio­nali­tät und Bos­heit, quasi aus dem techno­logischen Natur­zu­stand, empor­heben müssten. Viel­mehr ist das Design schon von seiner Natur her eine Kultur­technik, die ‚Werte‘ – wenn auch nicht gänz­lich eigen­mächtig – durch sich, mit sich und in sich ‚schöpft‘. Ob dieser durch­ge­staltete Kultur­zu­stand wieder­um als alter Sünden­stand oder neuer Stand der Unschuld ver­standen werden soll, mag jemand anderes ent­scheiden. Design­werte jeden­falls, welchen Dekalog man auch auf­setzen will, er­geben sich schon aus einem ‚Wert­design‘ ‚by nature‘, das mit dem bloßen Handeln und Ver­handeln von ökonom­ischen, öko­logischen, politischen etc. Wert­marken so­viel und zu­gleich so­wenig zu tun hat, wie die histor­ischen und struktur­ellen Gelingens­bedingungen des heutigen Kapitalis­mus mit denen des guten Lebens.

„Vielmehr ist das Design schon von seiner Natur her eine Kultur­technik, die ‚Werte‘ – wenn auch nicht gänz­lich eigen­mächtig – durch sich, mit sich und in sich ‚schöpft‘.“

Im Zuge der industri­ellen Revolu­tion hat sich ein Denken und Gestalten ver­schärft, dass auf der Basis ab­strakter Gegen­sätze und in anhaltenden Wert­debatten zu­gleich seine eigene Welt­ver­loren­heit ver­handelt – irgend­wo zwischen trägen Naturali­sier­ungen und vor­schnellen Kon­struk­ti­­vis­men. Bleibt zu hoffen, dass die Wert­debatte im Design irgend­wann ihrer selbst an­sichtig wird und zwar als an sich wertloses Adden­dum einer schon intrin­sisch sinn­vollen Ge­staltungs­praxis in­mitten eines mehr als bloß begüterten Lebens. Die ent­sprechende Ge­stalt­ungs­­theo­rie hätte sich erst ein­mal wieder für sie zu ‚sensi­bili­sieren‘. Denn ihre wesent­liche Frage harrt noch heute einer Beant­wort­ung: Was heißt eigentlich Gestalt?

Quellenverzeichnis

1   Vilém Flusser: Zum Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, Göttingen 1993, S. 38.
2   Vgl. schon Immanuel Kants wirkmächtige und differenzierte „Dialektik der teleologischen Vernunft“ innerhalb der Kritik der Urteilskraft von 1790 (§§ 69ff.).
3   Vgl. Anm. 2.
4   By the way: Hier wäre zugleich der Ausgangspunkt für Kants Moralphilosophie markiert, die im Grunde eine Theorie transzendentaler Freiheit im Verhältnis zur naturgesetzlichen Notwendigkeit ist. Seine unmittelbaren Nachfolger (Fichte, Schelling, Hegel) sollten gerade aus dieser innerlichen Identität von Sein und Sollen eine neue Naturphilosophie entwickeln, die heute im Wesentlichen wieder anschlussfähiger scheint, wie gleich noch zu sehen sein wird.
5   Vgl. Karen Barad: Verschränkungen, Leipzig 2015, S. 131: „Der Begriff der Intraaktion (im Gegensatz zum gängigen „Interaktion“, das eine vorgängige Existenz unabhängiger Relata/Existenzen voraussetzt) markiert eine wichtige Verschiebung, indem er grundlegende Konzepte klassischer Ontologie wie Kausalität, Wirkmächtigkeit, Raum, Zeit, Materie, Diskurs, Verantwortung und Verantwortlichkeit wieder öffnet und neu gestaltet. Eine spezifische Intraaktion verfügt einen agentischen Schnitt (im Gegensatz zum Cartesianischen Schnitt – einer inhärenten Unterscheidung – zwischen Subjekt und Objekt), der eine Trennung zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ bewirkt. Das heißt, der agentische Schnitt verfügt einen ‚lokalen‘ Beschluss [resolution] innerhalb des Phänomens der inhärenten, ontologischen Unbestimmtheit. Entscheidend ist dann, dass Intraaktionen agentische Trennbarkeit umsetzen – die lokale Bedingung einer Äußerlichkeit-innerhalb-von-Phänomenen. […] Intraaktionen schneiden Dinge zusammen-auseinander (als eine Bewegung). Identität ist eine Sache der Phänomene, keine individuelle Angelegenheit. Identität ist in sich multipel; oder vielmehr, Identität ist durch sich selbst diffraktiert – Identität ist Diffraktion/Différance/differieren/verschieben/differenzieren.“
6   So der gleichnamige Titel eines programmatischen Aufsatzes von Barad (ebd., S. 115).
7   Vgl. ausführlicher Florian Arnold: „Einbildungskraft – Einbildungsschwäche? Meta-anthropologische Perspektiven“, in: Figuren des Mangels, hg. v. Luc Vigialoro u. Thilo Schwer, transcript (i. Ersch.), wo u.a. Barads Konzept des Apparats mit Blick auf die ideengeschichtliche Tradition von disegno, Schema und Interface kontextualisiert und designphilosophisch fruchtbar gemacht wird.
8   Ebd., S. 205.
9   Ebd. S. 109f.
10  Vgl. ausführlich Florian Arnold: „Was heißt Gestalt? – für eine morphologische Designphilosophie“ in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2020; 68(3): S. 425-438.

Dr. Dr. Florian Arnold

studierte Philosophie und Germanistik in Heidelberg und Paris. Nach einer philosophischen Promotion an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg und einer zweiten Promotion in Design­wissen­schaft an der HfG Offen­bach lehrt er der­zeit an der Staat­lichen Akademie der Bildenden Künste Stutt­gart als akademischer Mit­arbeiter. Er ist als Redakteur (v.i.S.d.P.) der „Philosophischen Rundschau“ tätig und Host des Podcasts ARNOLD&ARNOLD. Von ihm sind u.a. erschienen: „Paramoderne“ (2023), „Architektur der Lebenswelt“ (2020), „Philosophie für Designer“ (2016).