KREATIVSTANDORT RHEIN-MAIN
Frankfurt und Rhein-Main – kreativ? Erst auf den zweiten Blick entdeckt man eine lebendige, vielfältige und motivierte Szene, die in manchen Spitzen zur Avantgarde der Republik zählt.
Als 2017 auf der Kunstbiennale in Venedig Dobermänner vor dem hoch eingezäunten Deutschen Pavillon kreisten, richtete sich der Blick der Kunstwelt auf eine unscheinbare Dame mit Baseball-Cap: Anne Imhof konnte mit ihrer Performance »Faust« die Kritiker für sich gewinnen. Ihr Werk wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Imhof lebt und arbeitet in Frankfurt, ist hier an der HfG Offenbach und der Städelschule ausgebildet worden. Die Künstlerin ist Teil einer neuen, progressiven und internationalen Kunstszene, von der man nur häppchenweise etwas außerhalb der Grenzen mitbekommt.
Sprungschanze in die Welt
Es ist eine ganz besondere Mischung, die die Metropole Frankfurt und die Region Rhein-Main anziehend für die »creative classes« macht: Auf einer recht kleinen Fläche wird eine enorme kulturelle Vielfalt geboten. Das Gebiet ist geprägt von Kontrasten, Authentizität, Weltoffenheit und – bei aller Internationalität – von einer guten Portion Bodenständigkeit. 200 Nationen treffen in der Region aufeinander. »Diversity«, das Neben- und Miteinander von verschiedenen ethnischen und sozialen Gruppen, wird hier schon lange gepflegt. Das bedingt auch, dass Kreative schnell andocken können. In den vergangenen Jahren wachsen die »creative industries« in der Region und gewinnen wieder an Bedeutung, nachdem es lange ruhig um sie war. Die Vorteile liegen auf der Hand: Kaum eine andere Region ist infrastrukturell so gut aufgestellt. Die Wege sind kurz und der Flughafen bietet Kosmopoliten eine Sprungschanze in die Welt. Nicht zuletzt bereiten der Finanzplatz, die Messe Frankfurt und die regionalen Unternehmen und Industrien Kreativen eine solide Basis fürs Geschäft.
An der kreativen Blüte in Rhein-Main haben die hier ansässigen Hochschulen einen großen Anteil: Allen voran die HfG in Offenbach, die Städelschule in Frankfurt sowie die Hochschulen und Universitäten in Darmstadt und Mainz. Sie gehören nicht nur zu den Besten in ihren jeweiligen Disziplinen, sondern sorgen auch für ein Avantgarde-Milieu. Ihre Absolvent*innen machen von hier aus eine internationale Karriere. Beispielsweise Sebastian Herkner, der zum »rising star« der internationalen Möbeldesign-Szene gehört. Er lebt und arbeitet nach seinem Studium immer noch in Offenbach. Oder Michael Riedel, der die Frankfurter Freitagsküche mitinitiiert hat und der als einer der wichtigsten Nachwuchskünstler der Bundesrepublik gehandelt wird. Auch Rochus Jacob hat seine Ausbildung in Offenbach genossen, bevor er ins Silicon Valley zu Nest gegangen ist, um dort das Smart Home-Tool mit zu entwickeln.
Offenbach is almost alright
Keine Kreativszene kommt ohne ihre Off-Spaces und Festivals aus. Etwa das SaasFee, das nicht nur in einem architektonisch sehenswerten 60er Jahre Pavillon im Anlagenring von Frankfurt beheimatet ist, sondern mit Ausstellungen zur Medienkunst den kritischen Diskurs auf kleinem Raum anzuregen weiß. Daneben sind es Orte wie der Künstlerverein Lola Montez, das Atelierfrankfurt und die Basis. Mainaufwärts, in Offenbach, ist es das Kulturzentrum Hafen 2, die Heyne- sowie die Hassia-Fabrik, in Wiesbaden der Schlachthof und in Darmstadt die Centralstation, die für subkulturelle Vibration sorgen. Die Rundgänge der HfG Offenbach und der Städelschule sind berühmt – Happenings sind hier keine Seltenheit. Dazu gesellen sich Festivals wie das Lichter Filmfest, die B3 Biennale des bewegten Films in Frankfurt oder das Exground Filmfest in Wiesbaden.
So paradiesisch die Zustände in Frankfurt und Rhein-Main zu sein scheinen, auf der Negativseite stehen steigende Mieten durch die rasante Immobilienentwicklung. Dass Kreative nach Offenbach ausweichen, weil dort Räumlichkeiten bezahlbar sind, ist längst kein Geheimnis mehr. Die Anzahl der Kreativunternehmen steigt hier exponentiell. #Offenbachisalmostalright lautet der versöhnliche Hashtag, den die Frankfurter Macher der »Making Heimat« Ausstellung zur Architekturbiennale 2016 geschaffen haben.
14,7 Mrd. Euro Umsatz, 20.500 Firmen, 128.500 Menschen
Kreativwirtschaft in Hessen 2018/2019
Auch die Museen in Frankfurt und Rhein-Main haben einen nicht geringen Beitrag an der Dynamik. Hilmar Hoffmann, der von 1970 bis 1990 Kulturdezernent in Frankfurt war, legte dafür den Grundstein: Er initiierte mit dem Motto »Kultur für alle!« nicht nur das Museumsufer, sondern förderte viele Institutionen mit hohen Summen. Frankfurter Häuser wie die Schirn, das Städel Museum, das Museum für Moderne Kunst, das Deutsche Architektur Museum, das Museum Angewandte Kunst und der Frankfurter Kunstverein, aber auch die Mathildenhöhe in Darmstadt oder das Sinclair-Haus in Bad Homburg stellen heute nicht nur alleine Kunst aus, sondern sind Plattformen für Austausch und Wissenstransfer. Das hat Tradition: Das über 200 Jahre alte Städel ist ein von Bürgern gegründetes und finanziertes Museum. Noch heute ist Frankfurt von einem besonders engagierten Publikum und Förderern geprägt.
Zentren für Jugendstil und Neues Bauen
Das südlich von Frankfurt gelegene Darmstadt versorgt das Rhein-Main-Gebiet mit der richtigen Dosis Forschung und Wissenschaft: Nicht umsonst spricht man von dem »Laboratorium der Zukunft«. Mitunter, weil das Europäische Raumfahrtkontrollzentrum von dort aus in fremde Galaxien schaut. In jüngster Zeit macht Darmstadt in Sachen Virtual und Augmented Reality von sich reden. Die Hochschule bietet dazu eigens einen Studiengang an und auch das dort ansässige Fraunhofer IGD ist weltweit führend für Visual Computing. Grundstein für den Innovationsgeist legte vor über 100 Jahren die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe: Sie gilt als Zentrum des europäischen Jugendstils mit Persönlichkeiten wie Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich.
9 staatliche Hochschulen, 26 private Akademien
Ausbildung in allen Bereichen der Kreativwirtschaft
Die Region war schon immer Platz und Bühne für Pioniere und Freigeister. Unter der Ägide des Architekten und Stadtplaners Ernst May entstanden zwischen 1925 und 1930 im Rahmen eines groß angelegten Wohnungsbauprojektes Siedlungen wie die Römerstadt oder Westhausen. Mays Kompagnon Martin Elsaesser baute die Großmarkthalle (heute Sitz der Europäische Zentral Bank). Während im »Labor« in Weimar und Dessau die theoretischen Grundlagen skizziert wurden, galt das »Neue Frankfurt« als die »Baustelle« der Moderne. Erst jüngst entdeckt man dieses Erbe wieder: Mit Ausstellungen und mit Re-Editionen. So werden die Möbel von Ferdinand Kramer, der in den 1960er Jahren die Johann Wolfgang Goethe-Universität gestaltete, vom Frankfurter Design-Label e15 aufgelegt. Die Haushalts- und Phonogeräte-Klassiker von Dieter Rams für die Firma Braun, die hier in Kronberg in den 1960er Jahren entstanden sind, dienen den Apple-Machern als Vorbild.
Der Geist von damals ist noch längst nicht verflogen. Querdenker sind in Rhein-Main herzlich willkommen. Fast alle Zweige der »creative industries« entwickeln sich enorm positiv und vor allem mit überregionaler Bedeutung: allen voran Games, Design, Werbung, Film und Architektur. In jeder Branche findet man Spitzenreiter auf Weltniveau. Sie sind eingebettet in ein dichtes, gut funktionierendes Netzwerk von Plattformen, Institutionen und nicht zuletzt starken Unternehmen aus dem Bereich Bankenwirtschaft, Konsumgüter, Chemie, Pharma, Logistik und der Automobilindustrie.
Künstliche Intelligenz vom Main
Bis in die 1990er Jahre hinein dominierte die Werbebranche in Rhein-Main – ein Kind der amerikanischen Besatzung. Nachdem ein Teil nach Hamburg, Düsseldorf und Berlin abwanderte, ist es inzwischen vielmehr die Software- und Games-Branche, die für Furore sorgt. Einen wesentlichen Faktor dazu trägt der weltweit größte Internetknoten DE-CIX bei, der sich in Frankfurt befindet. Mit Firmen wie Crytek und Metricminds sitzen hier Größen der Branchen. So werden Kampfszenen für Spiele wie „Horizon“ oder „Crysis“ von den Entwicklern von Metricminds in Frankfurt mit der »Motion Capture Technologie« programmiert. Der erfolgreiche Egoshooter »Far Cry« stammt von den Spiele-Machern von Crytek, die sogar eine eigene Engine entwickelt haben.
Und auch wenn Frankfurt nie eine Filmstadt war, so zeichnete sie sich lange Zeit über eine starke Post-Produktion aus. Bei Pixomondo in Frankfurt, die mit Firmensitzen auch in Los Angeles, Toronto, Vancouver, Peking, Stuttgart und Shanghai vertreten sind, wird heute noch nachgeschliffen. Und das ziemlich erfolgreich: So stammen etwa die Drachen in der Fantasy-Reihe »Game of Thrones« aus der Visual Effects-Schmiede. Und für den »Roten Baron« mit Mathias Schweighöfer und Til Schweiger gab es sogar einen Oscar.
Ebenso ein Pfund in die digitale Waagschale legt Chris Boos. 1995 gründete er die Firma Arago. Heute gilt er als einer der Pioniere für künstliche Intelligenz und wird selbst von den Google-Gründern zu Rate gezogen. So wenig greifbar die Welt des Digitalen ist: Es gibt Stellen, an denen sie in der analogen Welt auftauchen, die Ideen und Macher*innen. Alle zwei Jahre treffen sich die »Digital Natives« auf dem »Node Forum for Digital Arts« in Frankfurt, um die Verbindung zwischen Gestaltung und Programmierung neu zu definieren.
Landschaft für Literatur
Wer Ende 2016 in Wiesbaden am Hauptbahnhof ankam, der durfte Zeuge werden, wie Digitales sichtbar wird. Der »NoX«-Baum, eine Platane, zeigte mittels 10.000 LEDs an, wie hoch die Stickoxidbelastung in der Kurstadt war. Der »Stadtluftanzeiger« ist längst weitergezogen, nach Karlsruhe ins ZKM. Geblieben sind die Urheber, die Agentur Scholz & Volkmer, die einmal im Jahr anlässlich der »See Conference« in Wiesbaden alles versammelt, was im visuellen Design Rang und Namen hat.
Rund 80 Cluster und Netzwerkinitiativen
Wissensregion Rhein-Main
Das Digitale ist zwar auf dem Vormarsch, aber gerade zur Buchmesse erlebt Frankfurt jedes Jahr im Herbst eine besonders illustre Zeit, die weit über die Grenzen ausstrahlt. Dann kommen alle, die etwas zu sagen und zu schreiben haben, die die drängenden Themen unserer Zeit verhandeln. Das jeweilige Gast-Land wird auch von der überregionalen Medienlandschaft thematisiert. Denn, auch wenn der Suhrkamp-Verlag 2010 nach Berlin gezogen und Marcel Reich-Ranicki verstorben ist: Frankfurt und Rhein-Main sind nach wie vor bedeutende Orte für Literatur. Eine ganze Reihe von Verlagen wie der S. Fischer Verlag oder die FAZ-Verlagsgruppe haben hier ihren Sitz. Und in Darmstadt wird jedes Jahr die wichtigste deutsche Auszeichnung für zeitgenössische Literatur, der Georg-Büchner-Preis, verliehen.
Einen hätten wir doch beinahe vergessen: Johann Wolfgang von Goethe stammte auch von hier. Gleich neben seinem Geburtshaus in Frankfurt entsteht das neue Romantik Museum. Dahinter türmt sich die Skyline auf, die durch Hochhäuser von Star-Architekten wie Bjarke Ingels glänzt. Denn das ist Frankfurt und Rhein-Main: ein urbaner Raum mit vielen Gesichtern und Geschichten, dessen Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Infrastruktur sich dynamisch verändert, ohne seine Herkunft zu verleugnen. Wo man Gäste willkommen heißt und sich unvoreingenommen auf sie einlässt. Goethe, dem Neugierigen und Reiselustigen, würde es heute in seiner Heimat bestimmt gefallen.