Der „NoX“-Baum von Scholz & Volkmer in Wiesbaden zeigte an, wie rein die Stadtluft ist. Bild: Scholz & Volkmer

KREATIVSTANDORT RHEIN-MAIN

Frankfurt und Rhein-Main – kreativ? Erst auf den zweiten Blick entdeckt man eine lebendige, vielfältige und motivierte Szene, die in manchen Spitzen zur Avantgarde der Republik zählt.

Veröffentlicht am 22.01.2021

Als 2017 auf der Kunst­biennale in Venedig Dober­männer vor dem hoch ein­gezäunten Deutschen Pavillon kreisten, richtete sich der Blick der Kunst­welt auf eine un­schein­bare Dame mit Base­ball-Cap: Anne Imhof konnte mit ihrer Per­formance »Faust« die Kritiker für sich gewin­nen. Ihr Werk wurde mit dem Goldenen Löwen aus­ge­zeichnet. Imhof lebt und arbeitet in Frank­furt, ist hier an der HfG Offenbach und der Städel­schule aus­gebildet worden. Die Künst­lerin ist Teil einer neuen, pro­gres­siven und inter­natio­nalen Kunst­szene, von der man nur häppchen­weise etwas außer­halb der Grenzen mit­bekommt.

 

Sprungschanze in die Welt

Es ist eine ganz besondere Mischung, die die Metropole Frankfurt und die Region Rhein-Main anziehend für die »creative classes« macht: Auf einer recht kleinen Fläche wird eine enorme kultur­elle Viel­falt ge­boten. Das Gebiet ist geprägt von Kon­trasten, Authen­tizi­tät, Welt­offen­heit und – bei aller Inter­natio­nalität – von einer guten Portion Boden­ständig­keit. 200 Nationen treffen in der Region auf­ein­ander. »Diversity«, das Neben- und Mit­einander von ver­schiedenen ethnischen und sozialen Gruppen, wird hier schon lange gepflegt. Das be­dingt auch, dass Kreative schnell an­docken können. In den ver­gangenen Jahren wachsen die »creative indus­tries« in der Region und gewinnen wieder an Be­deutung, nachdem es lange ruhig um sie war. Die Vor­teile liegen auf der Hand: Kaum eine andere Region ist infra­struk­turell so gut auf­gestellt. Die Wege sind kurz und der Flug­hafen bietet Kosmo­politen eine Sprung­schanze in die Welt. Nicht zuletzt bereiten der Finanz­platz, die Messe Frank­furt und die regio­nalen Unter­nehmen und Industrien Kreativen eine solide Basis fürs Geschäft.

Alle zwei Jahre treffen sich die »Digital Natives« auf dem »Node Forum for Digital Arts« in Frankfurt. Bild: Mary Maggic

An der kreativen Blüte in Rhein-Main haben die hier an­sässigen Hoch­schulen einen großen An­teil: Allen voran die HfG in Offen­bach, die Städel­schule in Frankfurt sowie die Hoch­schulen und Uni­ver­sitäten in Darm­stadt und Mainz. Sie gehören nicht nur zu den Besten in ihren jeweiligen Dis­ziplinen, sondern sorgen auch für ein Avant­garde-Milieu. Ihre Absol­vent*innen machen von hier aus eine inter­natio­nale Karriere. Beis­piels­weise Sebastian Herkner, der zum »rising star« der inter­natio­nalen Möbel­design-Szene gehört. Er lebt und arbeitet nach seinem Studium immer noch in Offen­bach. Oder Michael Riedel, der die Frank­furter Freitags­küche mit­initiiert hat und der als einer der wichtigsten Nach­wuchs­künstler der Bundes­republik ge­handelt wird. Auch Rochus Jacob hat seine Aus­bildung in Offen­bach genossen, bevor er ins Silicon Valley zu Nest ge­gangen ist, um dort das Smart Home-Tool mit zu entwickeln.

 

Offenbach is almost alright

Keine Kreativ­szene kommt ohne ihre Off-Spaces und Festivals aus. Etwa das SaasFee, das nicht nur in einem archi­tekt­onisch sehens­werten 60er Jahre Pavillon im Anlagen­ring von Frank­furt be­heimatet ist, sondern mit Aus­stel­lungen zur Medien­kunst den kritischen Diskurs auf kleinem Raum an­zu­regen weiß. Da­neben sind es Orte wie der Künstler­verein Lola Montez, das Atelier­frank­furt und die Basis. Main­auf­wärts, in Offenbach, ist es das Kultur­zentrum Hafen 2, die Heyne- sowie die Hassia-Fabrik, in Wiesbaden der Schlacht­hof und in Darm­stadt die Central­station, die für sub­kulturelle Vibration sorgen. Die Rund­gänge der HfG Offen­bach und der Städel­schule sind berühmt – Happenings sind hier keine Seltenheit. Dazu gesellen sich Festivals wie das Lichter Film­fest, die B3 Biennale des bewegten Films in Frankfurt oder das Ex­ground Film­fest in Wies­baden.

Die Ölhafenbrücke von Schneider + Schumacher in Raunheim ist Teil des Regionalpark Rhein-Main. Bild: Jörg Hempel

So paradiesisch die Zu­stände in Frankfurt und Rhein-Main zu sein scheinen, auf der Negativ­seite stehen stei­gende Mieten durch die rasante Immobilien­ent­wick­lung. Dass Kreative nach Offen­bach aus­weichen, weil dort Räum­­lich­keiten be­zahl­bar sind, ist längst kein Geheimnis mehr. Die Anzahl der Kreativ­unter­nehmen steigt hier ex­po­nen­tiell. #Offenbach­is­almost­alright lautet der versöhn­liche Hash­tag, den die Frank­furter Macher der »Making Heimat« Aus­stellung zur Archi­tektur­bien­nale 2016 ge­schaffen haben.

14,7 Mrd. Euro Umsatz, 20.500 Firmen, 128.500 Menschen
Kreativwirtschaft in Hessen 2018/2019

Auch die Museen in Frankfurt und Rhein-Main haben einen nicht geringen Bei­trag an der Dynamik. Hilmar Hoff­mann, der von 1970 bis 1990 Kultur­dezernent in Frank­furt war, legte dafür den Grund­stein: Er initiierte mit dem Motto »Kultur für alle!« nicht nur das Museums­ufer, sondern förderte viele Institut­ionen mit hohen Summen. Frank­furter Häuser wie die Schirn, das Städel Museum, das Museum für Moderne Kunst, das Deutsche Archi­tektur Museum, das Museum Ange­wandte Kunst und der Frank­furter Kunst­verein, aber auch die Mathilden­höhe in Darm­stadt oder das Sinclair-Haus in Bad Homburg stellen heute nicht nur alleine Kunst aus, sondern sind Platt­formen für Aus­tausch und Wissens­transfer. Das hat Tradition: Das über 200 Jahre alte Städel ist ein von Bürgern ge­gründetes und finan­ziertes Museum. Noch heute ist Frank­furt von einem besonders engagierten Publi­kum und Förderern geprägt.

 

Zentren für Jugendstil und Neues Bauen

Das südlich von Frank­furt gelegene Darm­stadt versorgt das Rhein-Main-Gebiet mit der rich­tigen Dosis Forschung und Wissen­schaft: Nicht umsonst spricht man von dem »Labor­ator­ium der Zu­kunft«. Mit­unter, weil das Europäische Raum­fahrt­kontroll­zentrum von dort aus in fremde Galaxien schaut. In jüngster Zeit macht Darm­stadt in Sachen Virtual und Augmented Reality von sich reden. Die Hoch­schule bietet dazu eigens einen Studiengang an und auch das dort ansässige Fraun­hofer IGD ist weltweit führend für Visual Computing. Grund­stein für den Inno­vations­geist legte vor über 100 Jahren die Künstler­kolonie auf der Mathilden­höhe: Sie gilt als Zentrum des euro­päischen Jugend­stils mit Persön­lich­keiten wie Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich.

9 staatliche Hochschulen, 26 private Akademien
Ausbildung in allen Bereichen der Kreativ­wirtschaft

Die Region war schon immer Platz und Bühne für Pioniere und Frei­geister. Unter der Ägide des Architekten und Stadt­planers Ernst May entstanden zwischen 1925 und 1930 im Rahmen eines groß an­gelegten Wohnungs­bau­projektes Sied­lungen wie die Römer­stadt oder West­hausen. Mays Kompagnon Martin Elsaesser baute die Groß­markt­halle (heute Sitz der Euro­päische Zentral Bank). Während im »Labor« in Weimar und Dessau die theo­retischen Grund­lagen skizziert wurden, galt das »Neue Frankfurt« als die »Bau­stelle« der Moderne. Erst jüngst entdeckt man dieses Erbe wieder: Mit Aus­stellungen und mit Re-Editionen. So werden die Möbel von Ferdi­nand Kramer, der in den 1960er Jahren die Johann Wolfgang Goethe-Uni­ver­sität gestaltete, vom Frank­furter Design-Label e15 auf­gelegt. Die Haus­halts- und Phono­geräte-Klas­siker von Dieter Rams für die Firma Braun, die hier in Kron­berg in den 1960er Jahren ent­standen sind, dienen den Apple-Machern als Vorbild.

Die Möbel von Ferdinand Kramer, dem ehemaligen Baudirektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität, legt nun e15 als Re-Editionen auf. Bild: e15

Der Geist von damals ist noch längst nicht ver­flogen. Quer­denker sind in Rhein-Main herz­lich will­kommen. Fast alle Zweige der »creative industries« ent­wickeln sich enorm positiv und vor allem mit über­regio­naler Be­deut­ung: allen voran Games, Design, Werbung, Film und Archi­tektur. In jeder Branche findet man Spitzen­reiter auf Welt­niveau. Sie sind ein­gebettet in ein dichtes, gut funktio­nierendes Netz­werk von Platt­formen, Institu­tionen und nicht zuletzt starken Unter­nehmen aus dem Bereich Banken­wirt­schaft, Konsum­güter, Chemie, Pharma, Logistik und der Auto­mobil­industrie.

 

Künstliche Intelligenz vom Main

Bis in die 1990er Jahre hinein dominierte die Werbe­branche in Rhein-Main – ein Kind der amerikanischen Besatzung. Nachdem ein Teil nach Hamburg, Düssel­dorf und Berlin ab­wanderte, ist es inzwischen viel­mehr die Soft­ware- und Games-Bran­che, die für Furore sorgt. Einen wesent­lichen Faktor dazu trägt der welt­weit größte Inter­net­knoten DE-CIX bei, der sich in Frank­furt be­findet. Mit Firmen wie Crytek und Metric­minds sitzen hier Größen der Bran­chen. So werden Kampf­szenen für Spiele wie „Horizon“ oder „Crysis“ von den Ent­wicklern von Metric­minds in Frankfurt mit der »Motion Capture Technologie« programmiert. Der erfolg­reiche Egoshooter »Far Cry« stammt von den Spiele-Machern von Crytek, die sogar eine eigene Engine entwickelt haben.

Und auch wenn Frank­furt nie eine Film­stadt war, so zeichnete sie sich lange Zeit über eine starke Post-Produktion aus. Bei Pixo­mondo in Frankfurt, die mit Firmen­sitzen auch in Los Angeles, Toronto, Vancouver, Peking, Stuttgart und Shanghai vertreten sind, wird heute noch nach­ge­schliffen. Und das ziem­lich erfolg­reich: So stammen etwa die Drachen in der Fantasy-Reihe »Game of Thrones« aus der Visual Effects-Schmiede. Und für den »Roten Baron« mit Mathias Schweighöfer und Til Schweiger gab es sogar einen Oscar.

Zur „See Conference“ in Wiesbaden versammelt sich alles, was im visuellen Design Rang und Namen hat. Bild: Scholz & Volkmer

Ebenso ein Pfund in die digitale Waag­schale legt Chris Boos. 1995 gründete er die Firma Arago. Heute gilt er als einer der Pioniere für künst­liche Intel­ligenz und wird selbst von den Google-Gründern zu Rate gezogen. So wenig greif­bar die Welt des Digitalen ist: Es gibt Stellen, an denen sie in der ana­logen Welt auf­tauchen, die Ideen und Macher*innen. Alle zwei Jahre treffen sich die »Digital Natives« auf dem »Node Forum for Digital Arts« in Frank­furt, um die Ver­­bin­dung zwischen Gestaltung und Program­mierung neu zu definieren.

 

Landschaft für Literatur

Wer Ende 2016 in Wies­baden am Haupt­bahn­hof an­kam, der durfte Zeuge werden, wie Digitales sichtbar wird. Der »NoX«-Baum, eine Platane, zeigte mittels 10.000 LEDs an, wie hoch die Stick­oxid­belastung in der Kur­stadt war. Der »Stadt­luft­anzeiger« ist längst weiter­ge­zogen, nach Karls­ruhe ins ZKM. Geblieben sind die Ur­heber, die Agentur Scholz & Volkmer, die ein­mal im Jahr an­lässlich der »See Conference« in Wies­baden alles ver­sammelt, was im visuellen Design Rang und Namen hat.

Rund 80 Cluster und Netzwerkinitiativen
Wissensregion Rhein-Main

Das Digitale ist zwar auf dem Vor­marsch, aber gerade zur Buch­messe er­lebt Frank­furt jedes Jahr im Herbst eine besonders illustre Zeit, die weit über die Grenzen aus­strahlt. Dann kommen alle, die etwas zu sagen und zu schreiben haben, die die drängenden Themen unserer Zeit ver­handeln. Das jeweilige Gast-Land wird auch von der über­regionalen Medien­land­schaft thema­tisiert. Denn, auch wenn der Suhr­kamp-Verlag 2010 nach Berlin gezogen und Marcel Reich-Ranicki verstorben ist: Frankfurt und Rhein-Main sind nach wie vor bedeutende Orte für Lit­era­tur. Eine ganze Reihe von Verlagen wie der S. Fischer Verlag oder die FAZ-Verlags­gruppe haben hier ihren Sitz. Und in Darm­stadt wird jedes Jahr die wichtigste deutsche Aus­zeichnung für zeit­genöss­ische Literatur, der Georg-Büchner-Preis, verliehen.

Einen hätten wir doch beinahe ver­gessen: Johann Wolfgang von Goethe stammte auch von hier. Gleich neben seinem Geburts­haus in Frank­furt entsteht das neue Romantik Museum. Dahinter türmt sich die Sky­line auf, die durch Hoch­häuser von Star-Archi­tekten wie Bjarke Ingels glänzt. Denn das ist Frankfurt und Rhein-Main: ein urbaner Raum mit vielen Gesichtern und Ge­schich­ten, dessen Gesell­schaft, Wirt­schaft, Kultur und Infra­struktur sich dyna­misch ver­ändert, ohne seine Herkunft zu ver­leugnen. Wo man Gäste will­kommen heißt und sich un­vor­ein­ge­nommen auf sie ein­lässt. Goethe, dem Neu­gierigen und Reise­lustigen, würde es heute in seiner Heimat be­stimmt gefallen.