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DESIGN DISKURS

Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie stellt sich die Frage nach neuen Rollen, Aufgaben und Verantwortungen von Design für eine allumfassende Transformation. Bickert-Applebys These: Ein höheres Designverständnis in der Allgemeinheit sollte nicht nur die/den Einzelne*n ermächtigen, Veränderungen anzugehen, sondern auch dazu führen, bewusst, bessere Entscheidungen in und für unsere Gesellschaft zu treffen.

Veröffentlicht am 06.10.2020

Wir befinden uns in einer Krise, das ist Jedem bewusst. Auch wenn sich oberfläch­lich einige Gegeben­heiten geglättet haben, so hat Corona die Ungleich­heiten in unserer Gesell­schaft offenbart und zeigt uns ganz konkret, dass diese Krise uns nicht gleicher, sondern ungleicher gemacht hat. Durchs Raster gefallen sind Kinder, Jugend­liche, Familien, Studierende und Selbstständige, Klein- und mittel­ständische Unternehmer. Die Veranstaltungs­branche sowie die Kunst- und Kultur­szene hat es besonders hart getroffen, sie liegt am Boden ohne Perspektive.

Churchill sagte „Never let a good crisis go to waste“ und zeigte hiermit die Möglichkeit auf, die Situation der Krise für Verbesserungen, beziehungs­weise gesell­schaftliche Veränderungen und Inno­vationen, zu nutzen. Aus meiner Erfahrung als Inno­vations­beraterin kann ich bestätigen, dass Krisen, Druck und gesell­schaftliche Veränderungen, Inno­vationen hervorbringen und beschleunigen. Wie sieht das aber mit der gesell­schaftlichen Trans­formation aus? Wir sind immer noch und natürlich deutlich durch die Pandemie beschleunigt, in einer Trans­formation – einer gesell­schaftlichen Trans­formation. Aber sind wir das nicht immer? Die Frage ist doch eher, ob wir diese bewusst beein­flussen können und somit in eine bestimmte Richtung navigieren können. Und was ist oder kann die Rolle von Design in dieser Transformation sein?

In der Transitionsforschung wird das Mehr-Ebenen-Modell 1 zur Hilfe genommen, um Transitionen beziehungs­weise Transformationsprozesse zu verstehen. Der Transitionsforscher Derk Loorbach 2, definiert Transformation als „einen Prozess struktureller, nicht­linearer systemischer Veränderungen in dominanter Kultur, Struktur und Praktiken, der über einen Zeit­raum von Jahrzehnten stattfindet.“ Entwicklungs­faktoren wie Megatrends (z. B. Klimawandel) haben in einer über­geordneten Ebene (Landschaft) Einfluss auf Aktivitäten gesell­schaftlicher Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik und Wissen­schaft (Regime genannt) und üben Druck auf diese aus. Diese Teil­systeme sind hochgradig institutio­nalisiert und vermögen nur mit Verzögerung auf Druck der Landschaft zu reagieren. Sie zeigen aber Nischen auf, die sich durch vom Regime unterscheidende Verhaltens- und Handlungs­muster auszeichnen und welche recht agil auf Megatrends (Landschaftsdruck) reagieren können. Die Veränderung der gesell­schaftlichen Teil­systeme wird dabei als „Transition“ bezeichnet, der Prozess als „Transformations­prozess“. Der Ausruf von EU Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen, die kürzlich bekannt gegeben hat, dass ein neues europäisches Bauhaus zu kreieren sei, als Teil des 750 Milliarden Euro schweren „NextGenerationEU“ Investitions­plans, könnte hier bereits als ein Teil dieser Veränderung bewertet werden. 3

Bei der Beurteilung der jetzigen Situation ist aber die Frage, ob eine indi­viduelle Trans­formation der/des Einzelnen stattgefunden hat – sich die Lebens­einstellung des Indi­viduums geändert hat, oder durch äußere Umstände nur das Verhalten der/des Einzelnen temporär geändert wurde. Als Beispiel: Glauben Sie, dass die Menschen zurzeit weniger Auto fahren, weil sie „bewusster geworden sind für den Klima­wandel und nachhaltiger motiviert sind“ oder weil sie ins Home­office beordert wurden? Das Home­office ist sicherlich eine Veränderung in unserem Leben, welches wieder schwer rückgängig gemacht werden kann. Aber hat es unsere grund­legenden Werte geändert – also einen Paradigmen­wechsel, ein Wechsel der Lebens­einstellung bewirkt?

„Design und Designer*innen
haben eine Schlüssel­rolle in der Gestaltung einer so­zialen und ökologischen Trans­formation!“

Schon Horst Rittel, Herbert Simon und Victor Papanek wiesen auf die Auswirkungen von Design auf unsere Umwelt hin. Mehrere Schulen problem- und kontext­bewusster Designpraxis wie „Transformationsdesign“ 4, „Transitiondesign“ 5 und „Metadesign“ 6 betonen die Notwendigkeit gesell­schaftlicher Transformation, um eine nachhaltigere Zukunft zu verwirklichen und die zentrale Rolle von Design darin. Auch die World Design Organization sieht Design zentral positioniert, um unsere wirtschaft­liche, soziale, kulturelle und ökologische Lebens­qualität zu verbessern. Es geht also darum, Beiträge zur Zukunfts­fähigkeit unserer Gesell­schaft und für eine bessere Lebens­qualität zu leisten. Durch Design und Designer*innen. Und ich sage: durch Designverständnis.

Ich sehe im Kontext von Transformation besonders ein allgemeines Design­verständnis für zentral. Ein Design­verständnis in der Mitte unserer Gesellschaft – statt ausschließlich die spezifischen Design­fähigkeiten zur Umsetzung professioneller Designer*innen.

Designverständnis nutze ich für den englischen Begriff Design Literacy. Während Literacy im deutschen als Lese-, Schreib- und Rechen-Fähigkeit verstanden wird, als Basis der Alphabetisierung, wird Design­verständnis als Ausdruck genutzt, um eine Kompetenz zu beschreiben, auf verschiedenen Wegen Bedeutung, Funktion und Qualität auszudrücken. Der Begriff wurde bereits von Steven Heller (1999) im Kontext des Grafik­design genutzt und wurde zuletzt von Liv Merete Nielsen, eine der Vorsitzenden des „Design Literacy International Network“ 7 , geprägt. Literacy beinhaltet laut UNESCO 8 ein Kontinuum des Lernens, das es der/dem Einzelnen ermöglicht, seine Ziele zu erreichen, sein Wissen und Potenzial zu entwickeln und uneingeschränkt teil zu nehmen an der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Es geht also nicht darum, dass die/der Einzelne Aufgaben übernimmt und Fähigkeiten besitzt, um professionelle Designer*innen zu ersetzen, sondern es geht um ein grundlegendes Design­verständnis beziehungsweise Design­kompetenz. Design­verständnis sehe ich also als Teil der Allgemein­bildung, für gute Staats­bürgerschaft und zur Förderung demokratischer Ideale durch Partizipation und Dialog, welches für lebenslanges Lernen und sozialen Wandel unerlässlich ist. Es verwundert mich nicht, dass Design Literacy auch vom European Design Leadership Board genannt wurde. Vorschlag 20 fordert Designbildung für alle Bürger. 9

Ein breites gesellschaftliches Designverständnis ist relevant für Transformation,
da es ermöglicht:

  • Als kritischer Bürger partizipieren zu können und Lösungen besser beurteilen zu können. Bewusste Entscheidungen gegen oder für, zum Beispiel eine nicht nachhaltige Gestaltung, treffen zu können
  • Ideen und Konzepte entwickeln und umsetzen zu können
  • Die Potenzialentwicklung der/des Einzelnen und eine breitere Partizipation in der Gesellschaft

 
Ich sehe Design­verständnis zudem als zentralen Teil von Transformation Literacy. Es ist ein Teil der „Transformationskompetenz“, die laut Uwe Schneidewind, ehemaliger Präsident des Wuppertal Instituts Klima, Umwelt und Energie, verstanden werden kann als „die Fähigkeit, Informationen über gesellschaftliche Transformations­prozesse zu lesen und zu nutzen, um diese Prozesse entsprechend zu interpretieren und sich aktiv daran zu beteiligen“. 10 Design Literacy zahlt also direkt darauf ein, ob wir diese Prozesse lesen und daran partizipieren können.

Gerne möchte ich zwei konkrete Beispiele aus meiner Arbeitswelt geben, in denen Design­verständnis Treiber von Transformation ist: Als Innovationsberaterin sehe ich eine meiner Aufgaben darin, Design und Designverständnis in Organisationen einzuführen, die bis jetzt damit noch keine Berührungspunkte hatten, zum Beispiel im öffentlichen Sektor. Hier geht es nicht nur um nutzerzentrierte und damit intuitivere, effizientere Produkte, Dienstleistungen und Prozesse, bei deren Gestaltung ich mit meinem Designwissen und Design­kompetenz unterstütze, sondern ich nutze diese Chance auch, um ein allgemeines Verständnis für Design einzubringen. Der Auftrag heißt oft: Bringen sie unseren Mitarbeiter*innen, unseren Führungskräften bei, Ideen zu generieren und umsetzen zu können. Toll ist es zu erleben, wie sich Teilnehmer*innen aus Trainings durch dieses neue Wissen, diese Kompetenz auch persönlich verändern, aufgeschlossener werden, Einladungen für gemeinsames Arbeiten aussprechen, ihr neu erlerntes Wissen teilen. Wichtig scheint mir hierbei weniger, die spezifische Methodik, sondern die Veränderung der/des Einzelnen, die Annahme von Verant­wortung und die aktive Mit­gestaltung seiner/ihrer Organisation und Arbeit. Innere und äußere Transformation – durch Designverständnis.

Als zweites Beispiel sehe ich auf die Circular Economy – einem Gegen­entwurf zur jetzigen linearen Wirtschaft, mit der ich mich seit fast zehn Jahren beschäftige: Während sich die Circular Economy oft in Produkten in unserer gestalteten Welt manifestiert, so braucht es doch ein Umdenken und in dem Sinne, eine innere Trans­formation, einen Perspektivwechsel, um diese voran zu bringen und für sie gestalten zu können. Und es braucht ein Verständnis der Zusammen­hänge und Auswirkungen von Gestaltung.

Jeder oder jedem, die oder der sich damit beschäftigt, ist klar, wie zentral Design und ein Design­verständnis ist für die Circular Economy: Möchte ich ein Produkt für die Kreislaufwirtschaft gestalten, muss ich mit grundsätzlichen Design­fragen anfangen: dem Material, der Möglichkeit es auseinander zu nehmen, zu reparieren, zu recyceln – einer Frage für nachhaltiges Produktdesign. Die Wichtigkeit von Design wird auch noch einmal klar in Ursula von der Leyens Ausruf eines „New European Bauhaus“ 11, indem klar Designer*innen als Teil einer trans­disziplinären Gruppe genannt werden. Zentral auch daher, da es bei nach­haltigen Produkten oft um Material­unterschiede geht. Wissen, welches wir haben müssen, um nachhaltige (Kauf)ent­scheidungen treffen oder dafür gestalten zu können. Denn, wie können wir ohne dieses Wissen kritische (Kauf)ent­scheidungen treffen?

Dies ist auch wichtig bei der Gestaltung der Produkte in meinem nachhaltigen Fashion-Label: Solostücke – radical new lifestyles. Wir optimieren unsere Produkte für eine Rück­nahme und Wieder­verwertung, aber bedenken natürlich auch, dass wir damit Denkmuster der Konsumenten und der Industrie in Frage stellen – und viel wichtiger mögliche Lösungen aufzeigen müssen, damit um zu gehen.

Ein Designverständnis in der Mitte unserer Gesell­schaft ermächtigt die/den Einzelne*n Veränderung zu sehen und daran zu partizipieren oder bewusst dafür gestalten zu können. Wichtig ist allerdings die kritische Auseinandersetzung mit Design und Innovation, damit Menschen bessere Entscheidungen in ihren Bereichen treffen können – bessere Entscheidungen, die wir dann als Bürger in der gestalteten Welt unserer Stadt wörtlich zu spüren bekommen. Ein Designverständnis zu haben im Kontext von kritischer Innovation, heißt also, die positiven und negativen Auswirkungen von Design auf Menschen und Umwelt sehen zu können und sich dann bewusst dafür oder dagegen entscheiden zu können. Denn Design ist nicht neutral. Heißt, jede Idee, jede Entscheidung sollte beurteilt werden, ob diese eine Trans­formation hin zu einer nachhaltigen Welt befördert, oder nicht.

 

Was ist Ihre Vision eines guten Lebens?

Was ist Ihre Vision einer besseren Zukunft?

Welche Entscheidungen treffen Sie täglich und zahlen diese Entscheidungen auf Ihre Version von einer besseren Zukunft ein?

 

Was muss sich ändern? Ich wünsche mir, dass es eine Gestaltung einer Neu­ordnung gibt, in der wir Entscheidungen treffen, die bewusst sind, die kritisch die Zusammenhänge in unserer Welt hinterfragen und eine Design­kompetenz, die es in die Mitte unserer Gesell­schaft geschafft hat. Ich wünsche mir eine Design­disziplin, die mit am Tisch sitzt, wenn wir wichtige Gestaltungs­fragen für unsere Gesellschaft, unsere Zukunft diskutieren.

Ich wünsche mir, dass auch Design sich neu ordnet und die Lehrinhalte, sowie Forschungs­schwerpunkte den aktuellen gesellschaftlichen Heraus­forderungen anpasst und ich wünsche mir einen trans­disziplinären Ansatz in den Trans­formations­wissenschaften, der Design/er*innen und Design­wissen­schaften integriert. Persönlich wünsche ich mir, dass jede*r Einzelne versucht, die besten Entscheidungen in seinem/ihrem Bereich zu treffen, so dass wir gemeinsam eine Transformation mitgestalten und damit eine Zukunft erschaffen, die Perspektive hat.

 

Quellenangaben

1   Multi-Level Perspective, Geels 2002, Technological transitions as evolutionary reconfiguration processes: a multi-level perspective and a case-study
2   DRIFT, Rotterdam
3   https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ov/SPEECH_20_1655
4   Jonas et al., 2015; Sommer / Welzer, 2016
5   Irwin et al., 2015
6   Wood, 2013
7   https://designliteracy.net/ (Vorsitzende: NIELSEN Liv Merete, BOHEMIA Erik, BRÆNNE Karen)
8   UNESCO (2004). The Plurality of Literacy and its Implications for Policies and Programs. Paris: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization.
9   European Design Leadership Board (2012). Design for Growth & Prosperity: Report and Recommendations of the European Design Leadership Board. European Design
Innovation Initiative. Helsinki: EDLB

10   Schneidewind, U., Auf dem Weg zu einer „transformative Literacy“, Die Zeichen richtig deuten, Politische Ökologie
11   https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ov/SPEECH_20_1655

Svenja Bickert-Appleby

ist Designerin, Unternehmerin und Designforscherin und hat unter anderem Design Futures & Metadesign an der Goldsmiths University in London studiert. Als Geschäftsführerin von New Order Design – Studio for meaningful change in Wiesbaden ist sie international beratend als Innovations- und Transformationsbegleiterin im öffentlichen und privaten Sektor tätig. Mit viel Herzblut und Unternehmergeist pilotiert sie die Circular Economy mit ihrem zirkulären Modelabel „Solostücke – Radical new lifestyles“. Svenja Bickert-Appleby eröffnet somit eine Gestaltungsperspektive auf Führung von sinnvollem Wandel. In ihrer Designforschung untersucht Bickert-Appleby zukunftsfähige Designpraxis.