DESIGN DISKURS
Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie stellt sich die Frage nach neuen Rollen, Aufgaben und Verantwortungen von Design für eine allumfassende Transformation. Bickert-Applebys These: Ein höheres Designverständnis in der Allgemeinheit sollte nicht nur die/den Einzelne*n ermächtigen, Veränderungen anzugehen, sondern auch dazu führen, bewusst, bessere Entscheidungen in und für unsere Gesellschaft zu treffen.
Wir befinden uns in einer Krise, das ist Jedem bewusst. Auch wenn sich oberflächlich einige Gegebenheiten geglättet haben, so hat Corona die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft offenbart und zeigt uns ganz konkret, dass diese Krise uns nicht gleicher, sondern ungleicher gemacht hat. Durchs Raster gefallen sind Kinder, Jugendliche, Familien, Studierende und Selbstständige, Klein- und mittelständische Unternehmer. Die Veranstaltungsbranche sowie die Kunst- und Kulturszene hat es besonders hart getroffen, sie liegt am Boden ohne Perspektive.
Churchill sagte „Never let a good crisis go to waste“ und zeigte hiermit die Möglichkeit auf, die Situation der Krise für Verbesserungen, beziehungsweise gesellschaftliche Veränderungen und Innovationen, zu nutzen. Aus meiner Erfahrung als Innovationsberaterin kann ich bestätigen, dass Krisen, Druck und gesellschaftliche Veränderungen, Innovationen hervorbringen und beschleunigen. Wie sieht das aber mit der gesellschaftlichen Transformation aus? Wir sind immer noch und natürlich deutlich durch die Pandemie beschleunigt, in einer Transformation – einer gesellschaftlichen Transformation. Aber sind wir das nicht immer? Die Frage ist doch eher, ob wir diese bewusst beeinflussen können und somit in eine bestimmte Richtung navigieren können. Und was ist oder kann die Rolle von Design in dieser Transformation sein?
In der Transitionsforschung wird das Mehr-Ebenen-Modell 1 zur Hilfe genommen, um Transitionen beziehungsweise Transformationsprozesse zu verstehen. Der Transitionsforscher Derk Loorbach 2, definiert Transformation als „einen Prozess struktureller, nichtlinearer systemischer Veränderungen in dominanter Kultur, Struktur und Praktiken, der über einen Zeitraum von Jahrzehnten stattfindet.“ Entwicklungsfaktoren wie Megatrends (z. B. Klimawandel) haben in einer übergeordneten Ebene (Landschaft) Einfluss auf Aktivitäten gesellschaftlicher Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik und Wissenschaft (Regime genannt) und üben Druck auf diese aus. Diese Teilsysteme sind hochgradig institutionalisiert und vermögen nur mit Verzögerung auf Druck der Landschaft zu reagieren. Sie zeigen aber Nischen auf, die sich durch vom Regime unterscheidende Verhaltens- und Handlungsmuster auszeichnen und welche recht agil auf Megatrends (Landschaftsdruck) reagieren können. Die Veränderung der gesellschaftlichen Teilsysteme wird dabei als „Transition“ bezeichnet, der Prozess als „Transformationsprozess“. Der Ausruf von EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die kürzlich bekannt gegeben hat, dass ein neues europäisches Bauhaus zu kreieren sei, als Teil des 750 Milliarden Euro schweren „NextGenerationEU“ Investitionsplans, könnte hier bereits als ein Teil dieser Veränderung bewertet werden. 3
Bei der Beurteilung der jetzigen Situation ist aber die Frage, ob eine individuelle Transformation der/des Einzelnen stattgefunden hat – sich die Lebenseinstellung des Individuums geändert hat, oder durch äußere Umstände nur das Verhalten der/des Einzelnen temporär geändert wurde. Als Beispiel: Glauben Sie, dass die Menschen zurzeit weniger Auto fahren, weil sie „bewusster geworden sind für den Klimawandel und nachhaltiger motiviert sind“ oder weil sie ins Homeoffice beordert wurden? Das Homeoffice ist sicherlich eine Veränderung in unserem Leben, welches wieder schwer rückgängig gemacht werden kann. Aber hat es unsere grundlegenden Werte geändert – also einen Paradigmenwechsel, ein Wechsel der Lebenseinstellung bewirkt?
„Design und Designer*innen
haben eine Schlüsselrolle in der Gestaltung einer sozialen und ökologischen Transformation!“
Schon Horst Rittel, Herbert Simon und Victor Papanek wiesen auf die Auswirkungen von Design auf unsere Umwelt hin. Mehrere Schulen problem- und kontextbewusster Designpraxis wie „Transformationsdesign“ 4, „Transitiondesign“ 5 und „Metadesign“ 6 betonen die Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformation, um eine nachhaltigere Zukunft zu verwirklichen und die zentrale Rolle von Design darin. Auch die World Design Organization sieht Design zentral positioniert, um unsere wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Lebensqualität zu verbessern. Es geht also darum, Beiträge zur Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und für eine bessere Lebensqualität zu leisten. Durch Design und Designer*innen. Und ich sage: durch Designverständnis.
Ich sehe im Kontext von Transformation besonders ein allgemeines Designverständnis für zentral. Ein Designverständnis in der Mitte unserer Gesellschaft – statt ausschließlich die spezifischen Designfähigkeiten zur Umsetzung professioneller Designer*innen.
Designverständnis nutze ich für den englischen Begriff Design Literacy. Während Literacy im deutschen als Lese-, Schreib- und Rechen-Fähigkeit verstanden wird, als Basis der Alphabetisierung, wird Designverständnis als Ausdruck genutzt, um eine Kompetenz zu beschreiben, auf verschiedenen Wegen Bedeutung, Funktion und Qualität auszudrücken. Der Begriff wurde bereits von Steven Heller (1999) im Kontext des Grafikdesign genutzt und wurde zuletzt von Liv Merete Nielsen, eine der Vorsitzenden des „Design Literacy International Network“ 7 , geprägt. Literacy beinhaltet laut UNESCO 8 ein Kontinuum des Lernens, das es der/dem Einzelnen ermöglicht, seine Ziele zu erreichen, sein Wissen und Potenzial zu entwickeln und uneingeschränkt teil zu nehmen an der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Es geht also nicht darum, dass die/der Einzelne Aufgaben übernimmt und Fähigkeiten besitzt, um professionelle Designer*innen zu ersetzen, sondern es geht um ein grundlegendes Designverständnis beziehungsweise Designkompetenz. Designverständnis sehe ich also als Teil der Allgemeinbildung, für gute Staatsbürgerschaft und zur Förderung demokratischer Ideale durch Partizipation und Dialog, welches für lebenslanges Lernen und sozialen Wandel unerlässlich ist. Es verwundert mich nicht, dass Design Literacy auch vom European Design Leadership Board genannt wurde. Vorschlag 20 fordert Designbildung für alle Bürger. 9
Ein breites gesellschaftliches Designverständnis ist relevant für Transformation,
da es ermöglicht:
- Als kritischer Bürger partizipieren zu können und Lösungen besser beurteilen zu können. Bewusste Entscheidungen gegen oder für, zum Beispiel eine nicht nachhaltige Gestaltung, treffen zu können
- Ideen und Konzepte entwickeln und umsetzen zu können
- Die Potenzialentwicklung der/des Einzelnen und eine breitere Partizipation in der Gesellschaft
Ich sehe Designverständnis zudem als zentralen Teil von Transformation Literacy. Es ist ein Teil der „Transformationskompetenz“, die laut Uwe Schneidewind, ehemaliger Präsident des Wuppertal Instituts Klima, Umwelt und Energie, verstanden werden kann als „die Fähigkeit, Informationen über gesellschaftliche Transformationsprozesse zu lesen und zu nutzen, um diese Prozesse entsprechend zu interpretieren und sich aktiv daran zu beteiligen“. 10 Design Literacy zahlt also direkt darauf ein, ob wir diese Prozesse lesen und daran partizipieren können.
Gerne möchte ich zwei konkrete Beispiele aus meiner Arbeitswelt geben, in denen Designverständnis Treiber von Transformation ist: Als Innovationsberaterin sehe ich eine meiner Aufgaben darin, Design und Designverständnis in Organisationen einzuführen, die bis jetzt damit noch keine Berührungspunkte hatten, zum Beispiel im öffentlichen Sektor. Hier geht es nicht nur um nutzerzentrierte und damit intuitivere, effizientere Produkte, Dienstleistungen und Prozesse, bei deren Gestaltung ich mit meinem Designwissen und Designkompetenz unterstütze, sondern ich nutze diese Chance auch, um ein allgemeines Verständnis für Design einzubringen. Der Auftrag heißt oft: Bringen sie unseren Mitarbeiter*innen, unseren Führungskräften bei, Ideen zu generieren und umsetzen zu können. Toll ist es zu erleben, wie sich Teilnehmer*innen aus Trainings durch dieses neue Wissen, diese Kompetenz auch persönlich verändern, aufgeschlossener werden, Einladungen für gemeinsames Arbeiten aussprechen, ihr neu erlerntes Wissen teilen. Wichtig scheint mir hierbei weniger, die spezifische Methodik, sondern die Veränderung der/des Einzelnen, die Annahme von Verantwortung und die aktive Mitgestaltung seiner/ihrer Organisation und Arbeit. Innere und äußere Transformation – durch Designverständnis.
Als zweites Beispiel sehe ich auf die Circular Economy – einem Gegenentwurf zur jetzigen linearen Wirtschaft, mit der ich mich seit fast zehn Jahren beschäftige: Während sich die Circular Economy oft in Produkten in unserer gestalteten Welt manifestiert, so braucht es doch ein Umdenken und in dem Sinne, eine innere Transformation, einen Perspektivwechsel, um diese voran zu bringen und für sie gestalten zu können. Und es braucht ein Verständnis der Zusammenhänge und Auswirkungen von Gestaltung.
Jeder oder jedem, die oder der sich damit beschäftigt, ist klar, wie zentral Design und ein Designverständnis ist für die Circular Economy: Möchte ich ein Produkt für die Kreislaufwirtschaft gestalten, muss ich mit grundsätzlichen Designfragen anfangen: dem Material, der Möglichkeit es auseinander zu nehmen, zu reparieren, zu recyceln – einer Frage für nachhaltiges Produktdesign. Die Wichtigkeit von Design wird auch noch einmal klar in Ursula von der Leyens Ausruf eines „New European Bauhaus“ 11, indem klar Designer*innen als Teil einer transdisziplinären Gruppe genannt werden. Zentral auch daher, da es bei nachhaltigen Produkten oft um Materialunterschiede geht. Wissen, welches wir haben müssen, um nachhaltige (Kauf)entscheidungen treffen oder dafür gestalten zu können. Denn, wie können wir ohne dieses Wissen kritische (Kauf)entscheidungen treffen?
Dies ist auch wichtig bei der Gestaltung der Produkte in meinem nachhaltigen Fashion-Label: Solostücke – radical new lifestyles. Wir optimieren unsere Produkte für eine Rücknahme und Wiederverwertung, aber bedenken natürlich auch, dass wir damit Denkmuster der Konsumenten und der Industrie in Frage stellen – und viel wichtiger mögliche Lösungen aufzeigen müssen, damit um zu gehen.
Ein Designverständnis in der Mitte unserer Gesellschaft ermächtigt die/den Einzelne*n Veränderung zu sehen und daran zu partizipieren oder bewusst dafür gestalten zu können. Wichtig ist allerdings die kritische Auseinandersetzung mit Design und Innovation, damit Menschen bessere Entscheidungen in ihren Bereichen treffen können – bessere Entscheidungen, die wir dann als Bürger in der gestalteten Welt unserer Stadt wörtlich zu spüren bekommen. Ein Designverständnis zu haben im Kontext von kritischer Innovation, heißt also, die positiven und negativen Auswirkungen von Design auf Menschen und Umwelt sehen zu können und sich dann bewusst dafür oder dagegen entscheiden zu können. Denn Design ist nicht neutral. Heißt, jede Idee, jede Entscheidung sollte beurteilt werden, ob diese eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Welt befördert, oder nicht.
Was ist Ihre Vision eines guten Lebens?
Was ist Ihre Vision einer besseren Zukunft?
Welche Entscheidungen treffen Sie täglich und zahlen diese Entscheidungen auf Ihre Version von einer besseren Zukunft ein?
Was muss sich ändern? Ich wünsche mir, dass es eine Gestaltung einer Neuordnung gibt, in der wir Entscheidungen treffen, die bewusst sind, die kritisch die Zusammenhänge in unserer Welt hinterfragen und eine Designkompetenz, die es in die Mitte unserer Gesellschaft geschafft hat. Ich wünsche mir eine Designdisziplin, die mit am Tisch sitzt, wenn wir wichtige Gestaltungsfragen für unsere Gesellschaft, unsere Zukunft diskutieren.
Ich wünsche mir, dass auch Design sich neu ordnet und die Lehrinhalte, sowie Forschungsschwerpunkte den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen anpasst und ich wünsche mir einen transdisziplinären Ansatz in den Transformationswissenschaften, der Design/er*innen und Designwissenschaften integriert. Persönlich wünsche ich mir, dass jede*r Einzelne versucht, die besten Entscheidungen in seinem/ihrem Bereich zu treffen, so dass wir gemeinsam eine Transformation mitgestalten und damit eine Zukunft erschaffen, die Perspektive hat.