Bild © Beate Hartwig mit Stable Diffusion

DESIGN DISKURS

Wir gestalten für Menschen. Das bedeutet: für Unter­schiede gestalten. Konse­quenter­weise bedeutet menschen­zentriert gestalten also auch inklusiv gestalten. Designer­*innen sind prädesti­niert, die Ver­tretung der Menschen zu über­nehmen, die mit dem End­produkt inter­agieren sollen.

Veröffentlicht am 03.02.2024

Alles für den Menschen

Schauen wir uns einmal um und stellen wir uns die Frage: Was ist alles gestaltet?

Der Bildschirm, auf dem wir gerade lesen, der Schreibtisch, die Kaffee­maschine, unsere Klei­dung, die Apps auf unserem Smart­phone, die Archi­tektur, in der wir uns aufhalten … Viel­leicht bekommst du gerade ein Gefühl dafür, wie endlos diese Auf­zählung ist. Und so lautet die Ant­wort schnell: „Alles.“

Und der Grafikdesigner Chipp Kidd hat es einmal sehr passend formu­liert: „Alles, was nicht von der Natur gemacht ist, wurde zwangs­läufig von jemandem gestaltet.“ 1 Jedes Design, ob ein Produkt, eine Funktio­nalität, eine Dienst­leistung oder ein ganzes System, wurde von Menschen erdacht, konzi­piert und gestaltet. Und so gut wie jedes Design ist für Menschen ge­macht. Doch für welche Menschen? Wie sehen die Menschen, die mit dem Design inter­agieren werden, wort­wört­lich aus? Welche physischen Vor­aus­setzun­gen bringt der mensch­liche Körper mit? Welche kognitiven Eigen­schaften bringt der mensch­liche Kopf mit sich? Und wie können diese Ele­­men­­te einbe­zogen und genutzt werden, um möglichst mensch­zentriert zu gestalten?

Experience Design als menschzentrierter Gestaltungsansatz

Als Ausgangspunkt für eine mensch­zentrierte Gestaltung eignet sich der Denk- und Ge­stalt­ungs­­ansatz des Experience Design besonders gut. Denn die Erfahr­ungen, die ein Design schafft, entscheiden mit darüber, wie es ange­nom­men wird und vielmehr noch, wie es uns und unser Leben beein­flusst. Der Fokus im Experience Design liegt dabei stets auf dem Versuch, aus den ver­schiedenen Elementen, die eine Erfahrung ausmachen, ein für den Menschen sinn­volles Ganzes zu gestalten.

Experience Design Modell von Design Future, Illustration © Beate Hartwig

In Anlehnung an die DIN-Norm 9241-210 geht es darum, die drei Faktoren einer Inter­aktion möglichst passend aufein­ander abzu­stim­men: den Menschen, das Design und den Kontext. Der Mensch inter­agiert mit einem Design und diese Inter­aktion findet stets in einem bestimmten Kontext statt. Der Mensch, als Haupt­protago­nist*in in der Inter­aktion, spielt dabei die zen­tral­ste Rolle. Denn er ist nicht nur die feste Variable in der Inter­aktion, sondern auch der Grund für unsere Gestalt­ung. Alle drei Faktoren setzen sich dabei jeweils aus ver­schiedenen Ele­men­ten zusam­men, die als konkrete Ansatz­punkte in der Gestaltung dienen 2

Bei der Fokus­sierung auf den Haupt­faktor, den Menschen, gilt es, insbe­sondere diese fünf Ele­men­te in die Gestaltung mit einzu­be­ziehen: das mensch­liche Maß, Bewegung und Kraft, die Wahr­nehmung, die Informations­ver­arbeitung und mentale Modelle. Die zentrale Frage des Human Centered Design: Für wen gestalten wir eigentlich? – kann mit­hilfe der konkreten An­satz­­punkte gezielt beant­wortet werden: Für welche mensch­lichen Maße gestalten wir? Für welche Wahr­nehmungs­kanäle? Für welche mentalen Modelle? Und im Umkehr­schluss: Für wen gestalten wir nicht? Und warum?

Menschzentriert gestalten bedeutet inklusiv zu gestalten

Mit der Verab­schiedung des Barriere­freiheits­stärkungs­gesetz (BFSGV) bekommt der Ansatz der mensch­zentrierten Gestaltung noch einmal eine zentralere Bedeutung. Denn damit müssen Produkte und Dienst­leistungen, die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht be­zieh­ungs­­weise für Ver­braucher­*innen erbracht werden, inklusiv gestaltet sein. Dies umfasst alle Interfaces, digitale und analoge, von Apps über Bücher bis hin zu Bankautomaten.

Für Menschen gestalten bedeutet: für Unter­schiede gestalten. Und das ist der Kern einer inklu­siven Gestaltung. Uns Menschen ver­binden zwar zahl­reiche Gemein­sam­keiten – aber auch ebenso viele Unter­schiede. Als Gestalter­*innen können wir nicht von uns selbst als exem­plar­isches Beispiel des Menschen aus­gehen. Denn die Menschen, die unser Design er­fahren, wahr­nehmen, benutzen oder damit inter­agieren, haben möglicher­weise anderes Vor­wissen, andere Erwart­ungen, Einschränk­ungen und Möglich­keiten. Die Kernfrage lautet also immer: Für wel­che Menschen gestalten wir? Für welche Unter­schiede gestalten wir?

„Für Menschen gestalten bedeutet: für Unterschiede gestalten.“

Je mehr Unterschiede in der Gestaltung berück­sichtigt werden, umso mehr Menschen werden mit einem Design problem­los inter­agieren können und es als ent­sprechend ange­nehm erleben. Unter­schiede können perma­nent, temporär oder situativ auftreten.

Ein Mensch, der aufgrund einer Ein­schränk­ung nicht laufen kann, ist stets auf einen Roll­stuhl angewiesen, was einen perma­nenten Unter­schied zu anderen Menschen dar­stellt. Indem wir perma­nente Unter­schiede und Ein­schränk­ungen in die Gestalt­ung mit einbe­ziehen, inklu­dieren wir jedoch gleich­zeitig temporäre und situative Unter­schiede. So ermög­licht eine rollstuhl­gerechte Bord­stein­kante nicht nur der Roll­stuhl­fahrerin einen problem­losen und ange­nehmen Über­gang zwischen Straße und Bürger­steig, sondern gleich­zeitig auch einer Mutter oder einem Vater mit Kinder­wagen (ein temporärer Unter­schied) oder einer/einem Fahrrad­fahrer*in (situativer Unterschied).

Eine rollstuhlgerechte Bordsteinkante ermöglicht auch einer Mutter mit Kinderwagen einen angenehmen Übergang. Bild © Beate Hartwig mit Stable Diffusion

Die Einbeziehung von Unter­schieden beginnt jedoch nicht erst bei Menschen mit einem Be­hinder­ten­­ausweis. Unter­schiede treten in ver­schiedenen Bereichen und Facetten auf. So bietet eine links­händige Computer­maus nicht nur einer/einem Links­händer*in eine ange­nehme Inter­aktion am Computer. Auch Rechts­händige, die eine temporäre Ver­letzung an der rechten Hand haben, ermöglicht diese Design­lösung eine problem­lose Bedienung und damit eine an­ge­nehme Inter­aktion.

Für Teleskop-Daumen und Dreiecks-Füße

Auch wenn der Ansatz der menschen­zentrierten Gestalt­ung eigent­lich logisch erscheint, können wir schon bei den all­täg­lichsten Dingen ins Schmunzeln kommen, wenn wir die Frage stellen: Für wen wurde gestaltet?

Betrachten wir beispiels­weise einmal zwei ganz all­tägliche Designs: Schuhe und Smart­phones. Für wen wird ein Schuh gestaltet? Für den mensch­lichen Fuß, sollten wir annehmen. Betrachten wir jedoch den Grund­riss der meisten kon­ventio­nellen Schuhe verjün­gen sich die meisten Schuhe ab der Höhe des Ballens und laufen, je nach Modell, mehr oder weniger spitz nach vor­ne zusam­men und bilden eine dreieckige Spitze. Die Frage, „für wen wurde hier gestaltet“ müsste konse­quenter­weise mit Dreiecks­füßen beant­wortet werden, auch wenn diese nicht dem natür­lichen Fuß­grundriss eines Menschen entspricht.

„Um alle Interaktions­flächen des Displays eines Smart­phones erreichen zu können, benötigen wir eigentlich einen ‚Teleskop-Daumen‘.“

Und mit großer Wahr­scheinlich­keit befindet sich auch ganz in deiner Nähe ein Smart­phone. Die durch­schnitt­liche Breite eines Smart­phones liegt bei etwa sieben Zenti­metern. Damit reicht die Hand­spann­weite der meisten Menschen nur gerade so, um das Smart­phone zu um­greifen, je­doch keines­wegs, um es problem­los einhändig zu bedienen. Denn um alle Inter­aktions­flächen des Displays erreichen zu können, benötigen wir eigentlich einen „Teleskop-Daumen“ – einen Daumen, der sich beliebig weit aus- und ein­fahren lässt, um die Breite und die Diagonale des Smart­phones problem­los über­brücken zu können. Für eine reibungs­lose Inter­aktion ver­schwin­det das schlanke, glatte Gerät daher meist hinter zusätz­lichen Schutz- und Unter­stütz­ungs­­artikeln, wie Finger­halter­ungen, Panzer­glas­folien und Handy­hüllen. Für wen und für welchen Kontext wurde dieses Design entwickelt?

Sind Schuhe für Dreiecksfüße gestaltet? Bild © Beate Hartwig mit Stable Diffusion

Der Mensch in der Designausbildung

Angesichts der aktuellen rasanten Ent­wick­lungen neuer Gestaltungs­werk­zeuge mit­hilfe von genera­tiver KI stellt sich mehr denn je die Frage, was in der Design­aus­bildung zukünftig im Fokus stehen sollte. Während neue Gestaltungs­tools aktuell fast täglich neue Umsetzungs­möglich­keiten bieten, wird sich die Ziel­gruppe, für die wir ge­stalten, in ihren grund­legenden Eigen­schaften nicht wesent­lich verändern.

„In der Design­aus­bildung ist es wichtig, Basis­wissen zu den grund­legenden mensch­lichen Eigen­schaften zu vermitteln.“

In der Designausbildung ist es daher meiner Meinung nach wichtig, neben methodischem Wis­sen, auch Basis­wissen zu den grund­legenden mensch­lichen Eigen­schaften zu ver­mitteln, wie etwa aus den Bereichen der Ergono­mie, der Psycho­logie oder auch der Neuro- und Kognitions­wissen­schaften. Dadurch kann der eigene Beobacht­ungs­sinn für mögliche Probleme und die Be­wertungs­fähig­keit für die gestalteten Lösun­gen geschärft werden. Denn nur mit einem sensi­­bili­sierten Beobacht­ungs­sinn kann bewusst mensch­zentriert ge­staltet und zu­künftige Design­ideen abge­leitet oder ver­bessert werden.

Ein vertieftes Wissen über die Haupt­protago­nist­*innen der Inter­aktion, in Kombi­nation mit ein­em Werk­zeug­kasten an metho­dischen Vorgehens­weisen, kann die Position von Designer­*innen nach­­haltig stärken. Designer­*innen sind damit prä­desti­niert, im Ent­wicklungs­prozess zu­künft­iger Designs, über die gestalt­gebende Kompo­nente hinaus die Ver­tretung der Menschen zu über­­nehmen, die mit dem End­produkt inter­agieren sollen. Denn unab­hängig von neuen Tools bleibt die feste Variable in der Gestalt­ung der Mensch und damit stets ver­bunden die Frage: Für wen gestalten wir eigentlich?

Quellenverzeichnis

1   Kidd, Chip. Go. Illustrierte Auflage. New York, NY: Workman Publishing, 2014.
2   Hartwig, Beate. User Experience Design. Theorie. Methoden. Anwendung. Berlin: Design Future Publishing, 2022.

Beate Hartwig

bewegte sich schon während ihres Studiums im inter­diszi­pli­nären Mix aus Infor­matik, Psycho­logie und Design und absol­vierte dabei zwei Studien­gänge, Mensch-Computer-Systeme und Kom­muni­kations­design. Ihren Fokus legte sie auf Design Research und Design­lehre. Sie arbeitet als Designerin, lehrt und coacht in den Bereichen UX-Design, Inter­aktions­design, Design Thinking und Design­psycho­logie. 2022 ist ihr Buch erschienen, das erste deutsche Kompakt­buch zu (User) Experience Design für De­sign­er­­innen, Kreative und Visionärinnen.