DESIGN DISKURS
Wir gestalten für Menschen. Das bedeutet: für Unterschiede gestalten. Konsequenterweise bedeutet menschenzentriert gestalten also auch inklusiv gestalten. Designer*innen sind prädestiniert, die Vertretung der Menschen zu übernehmen, die mit dem Endprodukt interagieren sollen.
Alles für den Menschen
Schauen wir uns einmal um und stellen wir uns die Frage: Was ist alles gestaltet?
Der Bildschirm, auf dem wir gerade lesen, der Schreibtisch, die Kaffeemaschine, unsere Kleidung, die Apps auf unserem Smartphone, die Architektur, in der wir uns aufhalten … Vielleicht bekommst du gerade ein Gefühl dafür, wie endlos diese Aufzählung ist. Und so lautet die Antwort schnell: „Alles.“
Und der Grafikdesigner Chipp Kidd hat es einmal sehr passend formuliert: „Alles, was nicht von der Natur gemacht ist, wurde zwangsläufig von jemandem gestaltet.“ 1 Jedes Design, ob ein Produkt, eine Funktionalität, eine Dienstleistung oder ein ganzes System, wurde von Menschen erdacht, konzipiert und gestaltet. Und so gut wie jedes Design ist für Menschen gemacht. Doch für welche Menschen? Wie sehen die Menschen, die mit dem Design interagieren werden, wortwörtlich aus? Welche physischen Voraussetzungen bringt der menschliche Körper mit? Welche kognitiven Eigenschaften bringt der menschliche Kopf mit sich? Und wie können diese Elemente einbezogen und genutzt werden, um möglichst menschzentriert zu gestalten?
Experience Design als menschzentrierter Gestaltungsansatz
Als Ausgangspunkt für eine menschzentrierte Gestaltung eignet sich der Denk- und Gestaltungsansatz des Experience Design besonders gut. Denn die Erfahrungen, die ein Design schafft, entscheiden mit darüber, wie es angenommen wird und vielmehr noch, wie es uns und unser Leben beeinflusst. Der Fokus im Experience Design liegt dabei stets auf dem Versuch, aus den verschiedenen Elementen, die eine Erfahrung ausmachen, ein für den Menschen sinnvolles Ganzes zu gestalten.
In Anlehnung an die DIN-Norm 9241-210 geht es darum, die drei Faktoren einer Interaktion möglichst passend aufeinander abzustimmen: den Menschen, das Design und den Kontext. Der Mensch interagiert mit einem Design und diese Interaktion findet stets in einem bestimmten Kontext statt. Der Mensch, als Hauptprotagonist*in in der Interaktion, spielt dabei die zentralste Rolle. Denn er ist nicht nur die feste Variable in der Interaktion, sondern auch der Grund für unsere Gestaltung. Alle drei Faktoren setzen sich dabei jeweils aus verschiedenen Elementen zusammen, die als konkrete Ansatzpunkte in der Gestaltung dienen 2
Bei der Fokussierung auf den Hauptfaktor, den Menschen, gilt es, insbesondere diese fünf Elemente in die Gestaltung mit einzubeziehen: das menschliche Maß, Bewegung und Kraft, die Wahrnehmung, die Informationsverarbeitung und mentale Modelle. Die zentrale Frage des Human Centered Design: Für wen gestalten wir eigentlich? – kann mithilfe der konkreten Ansatzpunkte gezielt beantwortet werden: Für welche menschlichen Maße gestalten wir? Für welche Wahrnehmungskanäle? Für welche mentalen Modelle? Und im Umkehrschluss: Für wen gestalten wir nicht? Und warum?
Menschzentriert gestalten bedeutet inklusiv zu gestalten
Mit der Verabschiedung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) bekommt der Ansatz der menschzentrierten Gestaltung noch einmal eine zentralere Bedeutung. Denn damit müssen Produkte und Dienstleistungen, die nach dem 28. Juni 2025 in den Verkehr gebracht beziehungsweise für Verbraucher*innen erbracht werden, inklusiv gestaltet sein. Dies umfasst alle Interfaces, digitale und analoge, von Apps über Bücher bis hin zu Bankautomaten.
Für Menschen gestalten bedeutet: für Unterschiede gestalten. Und das ist der Kern einer inklusiven Gestaltung. Uns Menschen verbinden zwar zahlreiche Gemeinsamkeiten – aber auch ebenso viele Unterschiede. Als Gestalter*innen können wir nicht von uns selbst als exemplarisches Beispiel des Menschen ausgehen. Denn die Menschen, die unser Design erfahren, wahrnehmen, benutzen oder damit interagieren, haben möglicherweise anderes Vorwissen, andere Erwartungen, Einschränkungen und Möglichkeiten. Die Kernfrage lautet also immer: Für welche Menschen gestalten wir? Für welche Unterschiede gestalten wir?
„Für Menschen gestalten bedeutet: für Unterschiede gestalten.“
Je mehr Unterschiede in der Gestaltung berücksichtigt werden, umso mehr Menschen werden mit einem Design problemlos interagieren können und es als entsprechend angenehm erleben. Unterschiede können permanent, temporär oder situativ auftreten.
Ein Mensch, der aufgrund einer Einschränkung nicht laufen kann, ist stets auf einen Rollstuhl angewiesen, was einen permanenten Unterschied zu anderen Menschen darstellt. Indem wir permanente Unterschiede und Einschränkungen in die Gestaltung mit einbeziehen, inkludieren wir jedoch gleichzeitig temporäre und situative Unterschiede. So ermöglicht eine rollstuhlgerechte Bordsteinkante nicht nur der Rollstuhlfahrerin einen problemlosen und angenehmen Übergang zwischen Straße und Bürgersteig, sondern gleichzeitig auch einer Mutter oder einem Vater mit Kinderwagen (ein temporärer Unterschied) oder einer/einem Fahrradfahrer*in (situativer Unterschied).
Die Einbeziehung von Unterschieden beginnt jedoch nicht erst bei Menschen mit einem Behindertenausweis. Unterschiede treten in verschiedenen Bereichen und Facetten auf. So bietet eine linkshändige Computermaus nicht nur einer/einem Linkshänder*in eine angenehme Interaktion am Computer. Auch Rechtshändige, die eine temporäre Verletzung an der rechten Hand haben, ermöglicht diese Designlösung eine problemlose Bedienung und damit eine angenehme Interaktion.
Für Teleskop-Daumen und Dreiecks-Füße
Auch wenn der Ansatz der menschenzentrierten Gestaltung eigentlich logisch erscheint, können wir schon bei den alltäglichsten Dingen ins Schmunzeln kommen, wenn wir die Frage stellen: Für wen wurde gestaltet?
Betrachten wir beispielsweise einmal zwei ganz alltägliche Designs: Schuhe und Smartphones. Für wen wird ein Schuh gestaltet? Für den menschlichen Fuß, sollten wir annehmen. Betrachten wir jedoch den Grundriss der meisten konventionellen Schuhe verjüngen sich die meisten Schuhe ab der Höhe des Ballens und laufen, je nach Modell, mehr oder weniger spitz nach vorne zusammen und bilden eine dreieckige Spitze. Die Frage, „für wen wurde hier gestaltet“ müsste konsequenterweise mit Dreiecksfüßen beantwortet werden, auch wenn diese nicht dem natürlichen Fußgrundriss eines Menschen entspricht.
„Um alle Interaktionsflächen des Displays eines Smartphones erreichen zu können, benötigen wir eigentlich einen ‚Teleskop-Daumen‘.“
Und mit großer Wahrscheinlichkeit befindet sich auch ganz in deiner Nähe ein Smartphone. Die durchschnittliche Breite eines Smartphones liegt bei etwa sieben Zentimetern. Damit reicht die Handspannweite der meisten Menschen nur gerade so, um das Smartphone zu umgreifen, jedoch keineswegs, um es problemlos einhändig zu bedienen. Denn um alle Interaktionsflächen des Displays erreichen zu können, benötigen wir eigentlich einen „Teleskop-Daumen“ – einen Daumen, der sich beliebig weit aus- und einfahren lässt, um die Breite und die Diagonale des Smartphones problemlos überbrücken zu können. Für eine reibungslose Interaktion verschwindet das schlanke, glatte Gerät daher meist hinter zusätzlichen Schutz- und Unterstützungsartikeln, wie Fingerhalterungen, Panzerglasfolien und Handyhüllen. Für wen und für welchen Kontext wurde dieses Design entwickelt?
Der Mensch in der Designausbildung
Angesichts der aktuellen rasanten Entwicklungen neuer Gestaltungswerkzeuge mithilfe von generativer KI stellt sich mehr denn je die Frage, was in der Designausbildung zukünftig im Fokus stehen sollte. Während neue Gestaltungstools aktuell fast täglich neue Umsetzungsmöglichkeiten bieten, wird sich die Zielgruppe, für die wir gestalten, in ihren grundlegenden Eigenschaften nicht wesentlich verändern.
„In der Designausbildung ist es wichtig, Basiswissen zu den grundlegenden menschlichen Eigenschaften zu vermitteln.“
In der Designausbildung ist es daher meiner Meinung nach wichtig, neben methodischem Wissen, auch Basiswissen zu den grundlegenden menschlichen Eigenschaften zu vermitteln, wie etwa aus den Bereichen der Ergonomie, der Psychologie oder auch der Neuro- und Kognitionswissenschaften. Dadurch kann der eigene Beobachtungssinn für mögliche Probleme und die Bewertungsfähigkeit für die gestalteten Lösungen geschärft werden. Denn nur mit einem sensibilisierten Beobachtungssinn kann bewusst menschzentriert gestaltet und zukünftige Designideen abgeleitet oder verbessert werden.
Ein vertieftes Wissen über die Hauptprotagonist*innen der Interaktion, in Kombination mit einem Werkzeugkasten an methodischen Vorgehensweisen, kann die Position von Designer*innen nachhaltig stärken. Designer*innen sind damit prädestiniert, im Entwicklungsprozess zukünftiger Designs, über die gestaltgebende Komponente hinaus die Vertretung der Menschen zu übernehmen, die mit dem Endprodukt interagieren sollen. Denn unabhängig von neuen Tools bleibt die feste Variable in der Gestaltung der Mensch und damit stets verbunden die Frage: Für wen gestalten wir eigentlich?