DESIGN DISKURS
Benötigen wir überhaupt das Wort „Humanitarian Design“ oder ist das nur wieder eines der Designer-Buzzwords?
„Ich weise darauf hin, dass das erste Produkt menschlicher Kreativität der Gedanke ist. [...] Ich sage aus diesem Grunde: Denken ist bereits Plastik.“ 1
Joseph Beuys zeigt auf, dass die Realität den Gedanken und ihren Konstrukten entspringt. Ein in Wörtern und Sätzen formulierter Gedanke ist bereits nahezu Teil der Realität. Gestalter*innen beeinflussen unsere zukünftige Welt nach ihren Visionen. Diese Visionen entspringen der gegenwärtigen Realität und ‚entwerfen‘ somit Handlungsoptionen, die derzeitige Trends und deren Bewusstsein zwecks konstruktiven Umgangs, kanalisieren. Nach der Idee folgt das Wort. Auf das Wort folgt der Satz. Auf den Satz der Diskurs und auf den Diskurs der Wandel.
Die Wandel, die wir uns heute dringlich ersehnen, wären Reaktionen auf Phänomene, die ein eher pessimistisches Zukunftsbild aufkommen lassen. Wir befinden uns in einer vierteiligen globalen Krise, deren Bestandteile sich gegenseitig bedingen, wie Reckwitz und Rosa es benennen. 2 Diese Krisen sind: finanzökonomisch, sozial, individuell und ökologisch.
All diese Krisen, welche menschliches Leid verursachen, potenzieren sich reziprok. Dies hat zur Folge, dass ein Sektor nun vermehrte Aufmerksamkeit genießt: Der Humanitäre. Dessen Projekte werden immer wichtiger für unsere globale Gesellschaft und ihr Markt größer. Die Gedanken des Sektors versprechen Heilmittel und die auf ihnen basierenden Visionen, erzählen Geschichten von Leid, welches nachhaltig abgewandt wurde. Bei kritischer Betrachtung fällt jedoch auf, dass sowohl klassische humanitäre Notfallmissionen, als auch Entwicklungsprojekte, rein emergentische, selbst bereits warme Tropfen auf heißen Steinen sind. Oder welche humanitäre Krise haben wir in den ungefähr 100 Jahren humanitärer Geschichte vollends überkommen? Welche Schäden wurden, besten Wissens und Gewissens, aufgrund von Hilfeleistungen in schenkender Form und nicht ganzheitlich durchdachter Missionen angerichtet?
So müssen wir wohl neue Narrative und Visionen finden, die dann ein effizientes Überkommen von Krisen zulassen. Eine Idee, die diese generieren könnte, ist das Humanitäre Design; also ein Design, das sich explizit humanitären Projekten und ihrer Komplexität widmet. Somit hätten wir bereits ein beschreibendes Wort für die Idee.
Dieses Wort wird sich nur mit Bedeutung und ihr nachfolgenden Visionen füllen lassen, indem wir eine Gestaltungstheorie (Sätzen) entwickeln, welche Diskurs, Vermittlung und Weiterentwicklung zulässt und sich ohne Naivität auf die Besonderheiten solcher Projekte bezieht.
Zunächst erscheint mir dies als ein dringlicher Bedarf. Wir haben bereits heute genug zu tun: „2020 müssen rund 30,7 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von Naturereignissen wie Dauerregen, lang anhaltenden Dürren, Hitzewellen und Stürmen sowohl kurz- als auch langfristig verlassen.“ 3 Dies wird sich kausal unabwendbar potenzieren. Wir müssen den vielzähligen Katastrophen und Krisen mit Visionen vorauseilen, die dann im Notfall bereits Realität sind oder schnell werden können. Dies wird eine unserer Hauptaufgaben im 21. Jahrhundert werden. Wir müssen diesen Gestaltungsdiskurs eröffnen und zukünftig ganze Generationen von Gestalter*innen auf den Umgang mit lebensbedrohlichen Krisen und ihrer immensen Komplexität, durch eine Vorarbeit in Form einer Humanitären Gestaltungstheorie befähigen. Doch ist das so?
Man könnte auch die Hypothese aufstellen, dass sie bereits mit klassischer Gestaltungsausbildung und neueren Formen wie die des Partizipativen Designs vorbereitet sind. Doch genau diese Frage möchte ich hier aufzeigen und eventuell zu Teilen beantworten. Wenn nicht heute diesen Diskurs führen, wann dann? Der US-amerikanische Wirtschaftstheoretiker Whitman Rostow beschreibt dies prägnant, aber holistisch: „Krisen meistert man am besten, indem man ihnen zuvorkommt.“
Da nun die Idee existiert und ihr ein Wort gegeben wurde, müssen Sätze folgen; Auf die Sätze der Diskurs und erst dann der Wandel folgen. Es scheint ein langwieriger Prozess, der angesichts der Ernsthaftigkeit auch nicht vereinfacht werden sollte. Doch können wir uns dem Kanon des Social Design Gestaltungsdiskurs anschließen, um so etwas Zeit zu sparen oder wäre dies eine solche Vereinfachung? Ist die angesprochene Idee des Humanitären Designs bereits doch in ihrer Gänze mit dem Wort Social Design beschrieben?
Warum gerade der Vergleich mit Social Design? Lassen sich hieraus Sätze ableiten?
Bereits seit geraumer Zeit etablieren sich Gestaltungstheorien, die Fähigkeiten des Designs zu sozialer Transformation gezielt untersuchen und große Potenziale aufweisen. Diese Theorien werden durch ihre Benennungen wie „Social Design“, „Design Activism“, oder „Eco-Design“ greifbar und erforschbar. Sie versuchen, sich im Rahmen ihrer Hypothesen evaluierbar zu machen. Etwas einen Namen zu geben, ermöglicht es zu kategorisieren, Modelle zu entwickeln und im Folgenden zu dynamisieren, wie der Ökonom Fritz Schumacher erklärt: „First of all, there is language. Each word is an idea.“ 4 Jede der hier angesprochenen Theorien/Ideen sind Visionen für Gestaltung und somit für uns als Gesellschaft.
Der Social Design-Idee unterliegen zahlreiche andere Konzepte, die die Architektur dessen ausmachen, was Social Design ist. Folgt man dem Gedanken von Schumacher weiter, so setzen sich aus den Wörtern (Ideen) Bedeutungskonstruktionen zusammen: „Next to words, there are the rules of putting them together: grammar, another bundle of ideas.“ 5 Der Domäne, oder dem Wort „Social Design“ unterliegen somit eine Vielzahl von Sub-Domänen; „UX design“, „inclusive design“, „participatory design“, oder z.B. „human-centered“ und „community-centered design“.
Um gestalterische Theorien zu definieren, die zulassen, sie in ihren Ideen (Wörtern und Sätzen) zu begreifen und weiterführend zu dynamisieren, müssen wir diese mit all ihrem Zugrundeliegenden verstehen, ordnen und zu einem nachvollziehbaren Modell konfigurieren. 6 Dies wurde bereits zu Teilen für das Social Design vorgenommen: Social Design wird als Gestaltungs-Disziplin maßgeblich darin definiert, dass Gestalter*innen versuchen, in Kooperation mit Individuen, der zivilen Gesellschaft, staatlichen Institutionen und dem privaten Markt, Lösungen für soziale und ökologische Probleme zu finden. 7 Durch diese Definition begründet, finden wir heute zahlreiche Projekte für den humanitären Markt in Social Design Literatur. Doch ist der Social Design Markt derselbe Markt wie der humanitärer Projekte?
Ein erster Unterschied zum Social Design: der Markt
„Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ist der Markt der Ort, an dem Angebot und Nachfrage bezüglich bestimmter Güter aufeinandertreffen und der Preis für diese Güter ermittelt wird.“ 8 definiert die Bundeszentrale für politische Bildung. Der Social Design-Markt besteht, basierend auf der bereits genannten Definition, aus einem heterogenen Konglomerat von Akteuren. Staatliche Institutionen sind Teil des humanitären Marktes. Jedoch auch nur ein Teil. Nicht staatliche Humanitäre-, und auch Entwicklungsarbeits-Organisationen, sind hier nicht explizit genannt. Man müsste sie in die schwammig betitelte Gruppe der „zivilen Gesellschaft“ einordnen, obwohl hier offensichtliche Unterschiede vorliegen.
Die Anbieter*innen auf dem humanitären Markt beschränken sich bereits seit geraumer Zeit nicht mehr auf wenige große, homogene Institutionen. Hilfeleistungen werden heute von inter-staatlichen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Organisationen des Privatsektors und militärische Kontingenten – hierbei würde ich noch staatliche Organisationen anfügen, Anmerkung des Autors – angeboten, die alle unterschiedliche Agenden besitzen 9, erklärt der UNHCR Kenia-Repräsentant Martin Gottwald in seiner Analyse der internen Strukturen der UNHCR. Diese werden von privaten Unternehmen, durch „outsourcing“ unterstützt, ihre Missionen zu verfolgen. Die Abnehmer (im Jargon „beneficiaries“ genannt) verfügen oft über lediglich limitierte finanzielle Mittel. NGOs, INGOs und COs übernehmen die Konsumvormundschaft für diese, beschaffen Hilfsmittel zu ihren Konditionen und stellen diese sowie Services vergünstigt oder kostenfrei zur Verfügung. Bereits unter der isolierten Betrachtung des Verhältnisses erscheint klar, dass dieser Markt eine nischenartige Dynamik besitzt, die sich stark von gängigen Verhältnissen rein privater und teils auch staatlicher Märkte unterscheidet. Trotz des nischenartigen Charakters und stark limitierten Förderung, gerade im pandemischen Jahr 2021, generierten Humanitäre rund 19 Mrd. US-Dollar Umsatz durch rein staatliche Förderungen 10; eine Summe, die dem BIP des Libanons gleichkommt. Das ist zwar eine eher geringes BIP, jedoch müssten hierzu noch private Förderungen addiert werden: „In 2019, international humanitarian assistance from private donors increased by 9 percent, from US $ 6.2 billion in 2018 to a record US $ 6.8 billion in 2019.“ 11
Die Spender*innen der 25 Milliarden US-Dollar haben zudem oft größten direkten und indirekten Einfluss auf die Projekte und Organisationen. Somit hat der humanitäre Markt sicherlich qualitativ, aber auch quantitativ das Anrecht auf einen eigenen Status. Doch wie stark wirkt sich dies auf die dortige Gestaltung aus?
Humanitäres versus Social Design?
Einen Hinweis auf die gesonderte Stellung des Designs für humanitäre Kontexte ergibt sich aus der expliziten Definition der Design-Forscherin und Professorin Britta Fladvad Nielsen: „Humanitarian design is a term that can be used to describe the process of designing products, services, or systems for populations affected by natural and/ or human-made disasters. For example, a cooking stove designed for a refugee camp is a product that needs to take into account not only cultural appropriateness and the needs of the refugee, but also the services attached to the product, such as fuel production in the area.“ 12 Faldvad Nielsen gibt hier nicht nur einen Ausblick auf Gestaltungsschwerpunkte. Sie macht das Humanitäre Design an der Design Challenge „Katastrophe“ fest und stellt es somit als eigenständig heraus.
Doch ist Design auf diesem Markt und als Antwort für diese Challenges wirklich so divergent von der Gestaltungsdisziplin des Social Design?
Lösungen, die für und mit Humanitären entwickelt werden, verfolgen nur augenscheinlich ähnliche Ziele, wie die des Social Designs. Dies ist begründet in dem Konsens der Definitionen humanitärer Projekte. Deren Bemühungen sind solche, die unmittelbar in einer Krise, ihr nachgestellt oder sogar präventiv, Menschenleben retten und menschliches Leid mindern. 13 Fladvad-Nielsen spricht in ihrer Definition sogar klar menschengemachte und Naturkatastrophen aus, was maßgeblich der gängigen Definition von humanitärer Arbeit und ihrer Abgrenzung zu Entwicklungsarbeit dient. 14 (Hier verschwimmen die Grenzen, siehe Fußnote. Daher verstehe ich beides hier als humanitär.)
Festzuhalten gilt, dass man hier eher von lebensbedrohlicher Not oder vollkommen würdelosen Lebensbedingungen spricht, wobei sich ein Social Design-Projekt auch auf höchst relevante, aber nicht im Bereich des Bedrohlichen verortbare Interventionen wie gemeinsames Kochen von mittelständischen Familien auf einem lokalen Biomarkt beziehen kann.
Aus der Brisanz humanitärer Projekte wird klar, dass man diesen dramatischen und höchst komplexen Momenten nur mit „frameworks“ der Prozesse gerecht werden kann. In Notfällen (aber auch in Entwicklungsprojekten) liegen sehr spezifische, global standardisierte Abläufe der Missionen vor, die Designprozesse maßgeblich beeinflussen können, was eine pauschale Kategorisierung von Humanitarian Design als Social Design wiederum erschwert. Doch sind nicht gerade diese Prozesse und Strukturen Teil des humanitären Dilemmas fehlender Effizienz?
Seit ungefähr 2010 verändert sich der humanitäre Sektor stark und gleicht sich potenziell Strukturen des Social Design Marktes an: Man kann das die „Die Humanitäre Innovation“ nennen. Diese Innovation ist, wie die humanitären Forscher Bloom und Betts aufführen, ein Begriff sich weder rein auf die Umgestaltung von Systemen, noch auf Produkte bezieht. Vielmehr beschreibt dieser Innovationsbegriff ein Konglomerat aus Technologien, Arbeitsprozessen, neuen Partnerschaften und neuen Ideen, wie mit Krisen umgegangen werden sollte. 15 Teil dieser Verwandlung des bisher zwar mit dem privaten Markt verwoben, doch in seiner Anbieter-Abnehmer-Struktur vollkommen andersartigen humanitären Marktes, ist somit hauptsächlich die Annäherung an den Privaten. Eine Nähe, die das Social Design bereits aus Claudia Banz‘ Definition hervorgehend, besitzt.
Ein in akademischen und „field-worker“ Kreisen bereits verhandeltes Prinzip dieser Innovation soll das Umstellen eines „top-down“ Ansatzes zu einem „bottom-up“ Ansatz sein. 16 Wenn nun humanitäre Innovation sich mit der Öffnung des humanitären Marktes befasst, so ist die Konsequenz aus diesem Ansatz, die betroffene Bevölkerung zu befähigen, mündig und selbstbestimmt Teil des humanitären Marktes zu werden und darauffolgend, Teil der freien Marktwirtschaft, beschreibt der Ökonom Robin Murray: „For social innovation the role of the customer changes from a passive to an active player: to a producer in their own right“ 17 Gleichermaßen bezieht sich Social Design auf Prozesse der Partizipation, die im „human-centered-design“ und „community-centered-design“ verankert sind. Doch reicht dies aus, um Design für den humanitären Markt, trotz seiner einzigartigen Architektur, als Social Design auszuweisen, oder sind die Prozess- und Marktbedingungen zu divergent?
Humanitäre Arbeit, die das Leid in Katastrophen mildert, auch wenn schlussendlich innoviert, ist ein Sektor, welcher große Unterschiede zu dem herkömmlichen Arbeitsumfeld von Gestalter*innen aufweist: Die Auseinandersetzung mit existenzieller Not, Margen, Nutzen Evaluierung, humanitärer Ethik, Kooperationen mit humanitären Organisationen, Jargon, Arbeitsprinzipien, andersartige „supply-chains“ und eine ständige Bereitschaft, die dann enorm schnell in die Implementierungen der Lösungen überführt werden muss, sind nur Auszüge der Andersartigkeit, die dann noch von den spezifischen Abnehmer und Finanzierungsmodellen überschattet werden. Doch wie viel humanitär sollten wir in diesem Sektor bestehen bleiben? Eventuell war ja nun mal nicht alles schlecht? 14
Ein Aufruf zum Diskurs; Lasst uns die Sätze diskutieren und so neue Visionen erkennen.
Design ist oft naiv, gerade in den formulierten Ideen, den ersten Worten und ersten Sätzen. Dies ist für mich ganz klar eine Stärke von gestalterischen Interventionen und ist gerade das Element, welches divergentes Denken und Eröffnung der Möglichkeitsräume zulässt. Doch professionelle Gestaltung sollte sich auch selbstkritisch hinterfragen. Sie sollte realitätsnah beantworten können, wie durch sie größtmöglicher Mehrwert werden kann. Hierbei sollten wir die kontextuellen und sektoralen Parameter nicht außen vorlassen. Es könnte sich zeigen, dass formulierte Idee vielleicht doch zu naiv ist. Was faktisch naiv war, wird oft erst im Nachgang klar: Wird es der Versuch einen fundierten Diskurs zu eröffnen sein oder der Versuch ihn mit Argumenten aus Elfenbeintürmen abzutun? Blickt man in die Kunsthochschulen Deutschlands und einmal über den globalen Tellerrand hinaus, so denke ich eher zweites. Was meinst du?