DESIGN DISKURS

Wie beeinflusst Design die Demokratie? Und wie können wir die Hand­lungen von Akti­visten als Design ver­stehen? Der Design­forscher Maziar Rezai ver­an­schau­licht sein Kon­zept von „Design by Act“ an­hand der aktu­ellen Proteste von Frauen im Iran.

Veröffentlicht am 02.11.2022
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Felix Kosok: Lieber Maziar, du hast vor kurzem zusam­men mit Prof. Michael Erlhoff († 2021) das Buch „Design and Democracy“ ver­öffent­licht, das sich im Titel mit dem Thema deckt, das wir uns dieses Jahr beim DDC als Motto ge­geben haben. Du bist aber nicht nur ein Design­forscher, sondern auch je­mand, den ich als Design-Akti­visten be­zeich­nen würde. Du kommst aus dem Iran und warst während der Proteste bei den iranischen Präsident­schafts­wahlen 2009 und dann während des Arabischen Früh­lings aktiv, bevor du nach Deutsch­land kamst, um hier zu stu­dieren. Du bist also ein Ex­perte darin, wie Men­schen mit Macht- und Herr­schafts­struk­turen inter­agieren können – durch Design. Das ist natürlich ein wesent­licher Teil der Frage, wie Design mit unserer Demo­kratie zusam­men­hängt. Der DDC hat in diesem Jahr auch darüber dis­ku­tiert, wie Design demo­kratische Insti­tutionen und Pro­zesse ver­bessern könnte, wie wir Partizi­pation durch Design er­leichtern und Politik im Allge­meinen trans­paren­ter machen könnten. Aber wie würdest du als Forscher auf diesem Gebiet die Be­ziehung zwischen Design und Demo­kratie beschreiben?

Maziar Rezai: Diese Perspektive auf Design, oder vielmehr das Inter­esse an der von dir be­schriebenen Be­zieh­ung, hat 2017 einen ent­scheiden­den Wende­punkt er­reicht, als Victor Margolin und Ezio Manzini ihren offenen Brief an die Design­gemein­schaft ver­öffent­lichten: „Stand Up for Demo­cracy!“ In diesem Brief be­schreiben die beiden Forscher vier Wege, wie Design mit Demo­kratie zusam­men­hängt. (1) Design of democracy ist die Gestaltung der Insti­tuti­onen, auf denen die Demo­kratie auf­baut, und der Prozesse, die sie be­schrieben haben. (2) Design for democracy be­fasst sich mit Fragen der Tran­spar­enz und Zugäng­lich­keit. Für sie konzen­triert sich das Design für die Demo­kratie darauf, mehr Men­schen die Teil­habe zu er­mög­lichen, ins­be­son­dere durch Techno­logie. (3) Design in demo­cracy ist der Be­griff, den sie für Pro­jekte in demo­krat­ischen Gesell­schaften ver­wenden, die dazu bei­tragen, Gleich­heit und Gerechtig­keit zu schaffen. Und schließ­lich ist (4) design as demo­cracy für sie partizi­patives Design, das den Design­prozess für andere öffnet und so viele Interessen­gruppen wie möglich ein­be­zieht. Durch diesen offenen Brief wurden diese Themen wirk­lich in die Design­öffent­lich­keit getragen. Er trug dazu bei, dass sich Designer­*innen der sozialen Aus­wirk­ungen ihres Designs und der Rolle, die sie in der Gesell­schaft spielen können, be­wusst wurden, was ich auch selbst er­forscht habe. Meine aktuelle For­schung kon­zen­triert sich jedoch auf einen anderen Aspekt der Be­ziehung zwischen Design und Demo­kratie. Ich unter­suche die Hand­lungen gewöhn­licher Men­schen, die keine Designer­*innen sind, und wie diese Hand­lungen unter bestimmten Um­ständen als Design be­schrieben werden können: Design-Hand­lungen. Keine*r von ihnen ist Designer*in. Sie sind Akti­vist­*innen. Aber das, was sie unter bestim­mten Um­ständen tun, mit Werk­zeugen, Kreativi­tät und Impro­vi­sation, kann als Hand­lungen be­schrieben werden, die ein Element von Design bein­halten. Die Design­forscherin Uta Brandes hat den Begriff „Design by Use“ geprägt ...

Maziar Rezai, Prof. Dr. Felix Kosok.

Felix Kosok: Oder nicht-intentio­nales Design, wenn ich mich richtig erin­nere, richtig? Dinge, die für etwas ver­wen­det werden können, wofür sie nicht ent­worfen wurden.

Maziar Rezai: Richtig. „Design by use“ ist eine Art, die poten­ziellen gestalt­er­ischen Möglich­keiten zu be­schreiben, die manche Objekte be­sitzen, um bestimmte Design­hand­lungen zu ermög­lichen, auch wenn sie nie dafür ent­worfen wurden, diese Funktio­nen zu er­fül­len. Man kann einen Stuhl zum Bei­spiel be­nutzen, um einen Mantel daran aufzuhängen.

Felix Kosok: Man könnte den Stuhl auch als Podium be­nutzen. Oder als Waffe in einem Pro-Wrestling-Match.

Maziar Rezai: Ja. Aber der Stuhl wurde nie dafür ent­worfen. Den­noch können wir als Menschen Objekte so benutz­en, dass bestimmte Design­hand­lungen statt­finden können. Der Stuhl kann natürlich ein lustiges Beispiel sein. Aber ein spezifisches Umfeld, in dem viele dieser Design­hand­lungen statt­finden, sind Proteste und Demon­strationen. In Anbe­tracht dieser spezif­ischen Situ­ation und der Um­stände, unter denen diese Hand­lungen statt­finden, können sie meiner Meinung nach alle als Design­hand­lungen bezeich­net werden. Bei den Protes­ten in Hong­kong vor zwei Jahren zum Bei­spiel waren viele Design­hand­lungen von Aktivist­*innen zu be­obachten. Sie nutzten Werk­zeuge und Materi­alien, Objekte, die bereits vor­handen waren, um ihren Protest zu ge­stalten. Auch der gelbe Regen­schirm der Regen­schirm­be­wegung von 2014 wurde zu einem Symbol des Wider­stands. Er wurde zwar nicht dafür ent­worfen, aber er wurde auf diese Weise ver­wendet. Die Liste dieser Design­hand­lungen lässt sich fort­setzen, von der Ukraine bis zum Iran und Bahrain. Ich nenne sie „Design by Act: Wie Menschen Design nutzen, um ihre Bot­schaften an die Regier­ung, die Öffent­lich­keit und andere Menschen zu senden.“

Design by use.

Felix Kosok: Ich finde Ihre Be­schreib­ung von „Design by Act“ ziem­lich faszi­nierend. Sie er­weit­ert tat­säch­lich unsere Per­spek­tive als Design­forscher­*innen da­rauf, was unter bestimmten Um­ständen als Design be­zeich­net werden kann. Die absicht­liche Ver­wendung von nicht-inten­tio­nalem Design, die Ver­wen­dung eines Mittels zum Zweck, ist etwas, auf das sich Design­forscher­*innen bisher nicht so sehr kon­zen­triert haben. Dennoch frage ich mich: Ver­lieren wir nicht die Fähig­keit, Design zu definieren, wenn wir alles als Design be­zeich­nen? Wenn alles Design ist, ist am Ende nichts mehr Design? Ich spreche auch für eine Design­organi­sation, für alle professio­nellen Designer­*innen da draußen. Sollten wir uns nicht auf die „echten“ Designer­*innen konzentrieren?

Maziar Rezai: Ich denke, das ist schon der Punkt: Was ist ein*e „echter“ Design­er­*in? Ich habe selbst ziem­lich viel im Kon­text von Design­akti­vis­mus gear­beitet. Und hier gibt es viele ver­schiedene Rollen, die Menschen ein­nehmen, die man als Design bezeich­nen kann. Eine dieser Rollen habe ich „intellek­tueller Designer“ im Akti­vismus genannt. Das ist eine besondere Art von Designer­*innen, die sich über Design­hand­lungen im Klaren sind und wissen, wie sie Design und bestim­mte Werk­zeuge ein­setzen können, um ihre Bot­schaften zu ver­breiten – ohne sie selbst zu ent­werfen. Es ist eine Er­weiterung des Kon­zepts des akti­vist­ischen Designs: profes­sionelle oder nicht-profes­sio­nelle Designer­*innen, die ihr Design für Akti­vismus ein­setzen. Aber mein Kon­zept von „Design by Act“ er­weitert den Hori­zont des Design­akti­vismus noch weiter. Ich weiß, dass keiner der Menschen, die ich analy­siere, profes­sio­nelle Designer­*innen sind. Aber mit einem Ver­ständ­nis für die Aus­wirk­ungen und Konse­quen­zen von Design­hand­lungen können und sollten wir ihre Aktio­nen als Design unter dem Dach des Design­akti­vismus beschreiben.

Protestierende Frau auf einem Stromkasten im Iran. Vida Movahed, Revolutionsstraße, Teheran, 2017. Quelle: Twitter.

Felix Kosok: Ich denke, es ist sehr wichtig, diese Per­spek­tive auf bestim­mte Dinge und Hand­lungen einzu­nehmen, die bisher nicht als Design be­trachtet wurden. In unserem An­satz zum Motto „Design für Demo­kratie“ sind wir auch zu dem Schluss ge­kom­men, dass institu­tio­nelle Politik als Design be­schrieben werden kann. In gewisser Weise sind Politiker­*innen auch Designer­*innen. Sie be­schäftigen sich auch mit Design­pro­zessen, ohne es zu wissen. Wenn wir diese Hand­lungen als Design analy­sieren, wissen wir auch, wie wir sie aus einer Design­per­spek­tive kriti­sieren können: Was ist schief­ge­laufen? Was hat funktio­niert und was nicht? Und das Wichtigste: Wie können wir diese Prozesse so ver­bessern, dass wir bessere Ergeb­nisse er­zielen? Sobald wir den Design­aspekt dieser Pro­zesse sehen, können wir fun­dierte Vor­schläge zu ihrer Ver­besserung machen.

Maziar Rezai: Das liegt daran, dass diese Aktio­nen in einem politischen Kon­text statt­finden. Ob sie von pro­fessio­nellen Designer­*innen oder Nicht-Designer­*innen durch­ge­führt werden, spielt in ge­wisser Weise keine Rolle, da sie in diesem spe­zifischen Kon­text gestalter­ische Konse­quen­zen haben. Design ist Design, egal ob es von profes­sio­nellen Designer­*innen oder Nicht-Designer­*innen ge­macht wird. Es kann ein all­täg­liches Ver­halten von Menschen sein. Aber „Design by Act“ ge­schieht nur unter bestim­mten Um­ständen, im polit­ischen Kon­text. Es ist eine beson­dere Aktion von Nicht-Designer­*innen, die ihre Kreativi­tät ein­setzen, um eine Bot­schaft zu senden. Aber ich denke, das lässt sich am besten an­hand eines kon­kreten Falles erklären ...

Die Stromkästen wurden von der Regierung vergittert.

Felix Kosok: Das sehe ich auch so. Kommen wir also zu dem Punkt deiner aktu­ellen For­schung. Wie du be­schrie­ben hast, können außer­ge­wöhn­liche Um­stände Men­schen in die Lage ver­setzen, Designer­*innen zu werden. Außer­ge­wöhn­liche Um­stände, ja sogar ein Aus­nahme­zu­stand, können sie dazu zwingen, die Materi­alien und Werk­zeuge, die sie zur Hand haben, auf kreative Weise zu nutzen, um ihre Bot­schaft zu ver­mitteln. So werden sie zu akti­vist­ischen Designer­*innen durch Hand­lung. Das ist jetzt im Iran mit dem Frauen­protest ge­schehen, der das Thema deiner aktu­ellen For­schung ist. Kannst du die beson­dere Situ­ation im Iran ein wenig be­schreiben?

Maziar Rezai: Was im Iran ge­schieht, hat nicht nur mit dem Hijab zu tun, sondern um­fasst auch andere Aspekte des Lebens. Der Protest des Volkes richtet sich gegen die Ver­weiger­ung des Alltags­lebens durch die Re­gierung. Mit anderen Worten, die Farben des Lebens und des Glücks werden durch die Miss­wirt­schaft der Regier­ung in den Be­reichen Wirt­schaft, Kultur und Politik seit mehr als vier Jahr­zehnten ver­passt. Auch die Proteste von Frauen gegen die Kleider­ord­nung des Regimes sind nicht neu. Es hat sie schon früher ge­geben. Doch als eine junge Frau, Mahsa Amini, in Teheran ver­haftet wurde, weil sie ihr Kopf­tuch nicht genau nach der Kleider­ordnung und den Vor­schriften trug, und an­schließend in Polizei­ge­wahr­sam starb, brachen die Proteste erneut aus und ver­stärk­ten sich. Sie dauern an, und das ist es, was im Moment passiert. Meine Recher­chen gehen jedoch auf die früheren Pro­teste im Jahr 2017 zurück, als Frauen die Strom­kästen in der Enghelab-Straße, einer großen und be­rühmten Straße in Teheran, für einen beson­deren Protest nutzten. Iranische Frauen und Mädchen kletterten auf diese Strom­kästen, stellten sich auf sie und nutzten sie als Bühne, um ihre Kopf­tücher abzu­legen. Sie steckten ihr weißes Kopf­tuch auf einen Stock und hoben es schwei­gend in die Luft, um gegen die Hijab-Pflicht zu pro­tes­tieren. Meiner Meinung nach haben sie die Strom­kästen umge­staltet, indem sie sie als Bühne für ihren Protest nutzten. Beein­druckende Bilder dieser Proteste wurden in den sozialen Netz­werken ver­öffent­licht. Diese Proteste dauerten eine ganze Weile an. Die Regier­ung griff natür­lich ein und verhaftete die Demon­strant­innen. Aber sie mussten auch ver­hindern, dass diese Design­hand­lungen statt­finden können. Also wurde eine pyramiden­förmige Metall­kon­struk­tion auf die Kisten ge­setzt, um zu ver­hin­dern, dass die Frauen und Mädchen auf die Kisten klettern. Außer­dem wurden die Kisten in seltsame Käfige ge­sperrt. Doch mit diesem kon­struktiven Ein­griff der Regier­ung war es noch nicht getan. Die Demon­strant­innen ent­wickelten darauf­hin eine Kon­struk­tion, eine Art impro­vi­sier­ten Hocker, den sie auf die Pyra­miden stellten, um wieder auf den Kisten stehen zu können. Sowohl die Pyramiden als auch die Hocker waren Design­hand­lungen in einem Kampf gegen die Macht. Darüber hinaus wurden die Strom­kästen zu einem Symbol für die Proteste, und sowohl Bürger­*innen als auch Demon­strant­*innen ver­zierten sie mit Grafiken und Street-Art. Dieser ganze Prozess kann als eine Design­handlung bezeich­net werden, die einen Gebrauchs­gegen­stand in ein öffent­liches Stadt­möbel ver­wandelte und ihn schließ­lich zu einem Symbol für den Protest machte. Die Designer­*innen dieser Strom­kästen hätten dies nie­mals voraus­sehen können.

Felix Kosok: Das ist faszinier­end, wie die Mädchen und Frauen mit der Infra­struktur der Stadt inter­agierten, um den öffent­lichen Raum für ihren Protest zurück­zu­er­obern. Sie wollten für die Öffent­lich­keit sicht­bar werden und ihre Bot­schaft durch Design­akti­vis­mus aus­senden, wie du be­schrieben hast. Doch dann griff die Regier­ung ein und ver­suchte, diesen Protest wieder un­sicht­bar zu machen, indem sie ihm seine politische Gültig­keit als Stimme, die ge­hört werden sollte, absprach und seine Durch­führ­ung ver­hinderte. Aber das hinderte den Protest und seinen An­spruch, im öffent­lichen Raum gehört und gesehen zu werden, nicht daran, und die Demon­strant­innen änderten den Schau­platz er­neut. Sie taten dies durch Design­hand­lungen.

Maziar Rezai: Es ist wirklich die Bot­schaft, die im Mittel­punkt von Design by Act steht. In diesem Kampf ist es so, als ob das Volk und die Macht, das Volk und die Regier­ung, in einem Disput mit­ein­ander reden würden. Sie führten einen öffent­lichen Dialog, der die Grund­lage der Demo­kratie ist. Es handelte sich um einen öffent­lichen Disput, der durch Design, „Design by Act“ durch die Men­schen und „Top-Down-Design-Akti­vis­mus“ durch die Regier­ung statt­fand. Teil­weise handelte es sich auch um nicht-intentio­nales Design oder „Design by Use“, aber in einem sehr spezif­ischen, polit­ischen Um­feld. Design durch Ge­brauch kann im täg­lichen Leben statt­finden. Aber Design durch Handeln findet nur im polit­ischen Kon­text statt. Wenn ein Aus­nahme­zu­stand herrscht und ein gewisser Hand­lungs­druck besteht, Design für einen öffent­lichen Protest zu nutzen.

Beispiel für „Design by act“: Die Stromkästen werden mit Graffitis verziert.

Felix Kosok: Ein Protest, der ein polit­isches Subjekt auf die Bühne bringen soll, um ein polit­isches Sub­jekt sicht­bar zu machen, dessen Stimme zu­vor nicht gehört wurde. Die Sicht­bar­keit oder auch das Spek­takel dieses Ent­wurfs spielt eine wichtige Rolle in diesem „Design by Act“. Die Demon­strant­innen schaffen die Mög­lich­keit, dass Frauen auf den Straßen von Teheran eine Bühne bekom­men, auch wenn diese Möglich­keit noch nicht be­steht. Aber die Pro­teste tun so, als ob es so wäre. Und dann greift die Regier­ung ein und ver­sucht, diese Design­hand­lung rück­gängig zu machen oder zu ver­hindern, dass sie sich wieder­holt. Aber wenn die Katze einmal aus dem Sack ist … Aus dem Text, den du in Design and Democracy ver­öffent­licht hast, weiß ich, dass du den sozialen Medien sehr kritisch gegen­über­stehst. Gilt das für soziale Medien im Allgemeinen?

Maziar Rezai: Ja, das ist wahr. Ich bin sehr kritisch gegen­über den sozialen Netz­werken. Vor allem gegenüber Meta und seinen Platt­formen, Face­book und Insta­gram. Aber ich bin ein­fach krit­isch gegen­über der Form, die die sozialen Medien im Über­wachungs­kapi­talis­mus ange­nom­men haben. Wenn wir die sozialen Medien aus der Per­spek­tive des Designs be­trachten, können wir auch sehen, wie wir diese Platt­formen umge­stalten könnten, um uns gleich­zeitig soziale Ver­bindun­gen und Daten­sicher­heit zu bieten. Wir könnten diese Platt­formen so umge­stalten, dass sie demo­kratischer werden und nicht nur von Daten und Profit ge­trieben sind. Wir könnten sie so umge­stalten, dass ihr Design auf Werten basiert.

Felix Kosok: Aber die sozialen Medien spielen eine große Rolle dabei, diese Proteste sichtbar zu machen, nicht nur auf den Straßen von Teheran oder Iran, sondern für die ganze Welt.

Maziar Rezai: Ja, natürlich. Sie sind nicht nur gut oder schlecht, sondern auch ein Ge­stalt­ungs­mittel, das ge­nutzt – und umge­staltet – werden sollte. Soziale Medien spielten eine wichtige Rolle bei den Protesten im Iran, die 2009 nach der Präsident­schafts­wahl statt­fanden. Es war das erste Mal, dass die Iraner­*innen soziale Netz­werke nutzten, um sich zu infor­mieren und soziale Medien als Bühne für ihre Pro­teste zu ver­wen­den. Nach diesen Pro­testen und dem arabischen Früh­ling nahm das Phäno­men des Bürger­jour­nalis­mus, bei dem normale Bürger­*innen Miss­stände in der Regier­ung und bei den Be­hörden doku­men­tieren, wirk­lich über­all seinen An­fang. Aber „Design by Act“ geht über die reine Doku­menta­tion von Dingen hinaus und nutzt die Instru­mente der sozialen Medien, um einen Pro­test zu er­zeu­gen. In diese Pro­teste ist viel Kreativi­tät einge­flossen, vor allem jetzt, was dazu bei­ge­tragen hat, sie für den Rest der Welt sicht­bar zu machen und die Bot­schaft zu verbreiten.  

Der Stromkasten als Ikone des Protests. Bild © Pelleh Studio

Felix Kosok: Kreativität scheint sehr wichtig für „Design by Act“ zu sein. Denn wenn keine Krea­tivi­tät im Spiel ist, wenn es keine kreative Neu­ver­hand­lung der Um­stände gibt, wird der Pro­test nicht die not­wendige Sicht­barkeit erreichen.

Maziar Rezai: In der Tat. Wir haben überall auf der Welt ein großes Demo­kratie­pro­blem. Die Demo­kratie ist be­droht. Mein Vor­schlag des Kon­zepts „Design by Act“ unter dem Begriff „Design­akti­vis­mus“ kann uns helfen, neue Wege zur Lösung dieses Pro­blems zu finden. Es bringt uns dazu, die Rolle der Designer­*innen zu über­denken, es hinter­fragt die Rolle der Nutzer­*innen und es kon­zen­triert sich auf Krea­tivi­tät und Sicht­bar­keit. Es geht nicht darum, fach­kundiges Design im Kontext von Indus­trie und Wirt­schaft zu er­setzen, sondern eine weitere Alter­native daneben­zu­stellen. Wenn sich nur alle als Designer­*innen ver­stehen würden, die einen Ein­fluss und eine Wirk­ung auf unsere Welt haben, und nicht nur die Expert­*innen, dann könnten wir gemein­sam eine Lösung finden. Das arabische Wort für Design, Tasmim, das wir auch im Persischen ver­wenden, bedeutet eigent­lich: eine Ent­scheidung treffen. Und derjenige, der gestaltet, Musamim, ist der­jenige oder die­jenige, der oder die aus­wählt und Ent­scheidun­gen trifft. Aber wenn wir die Bedroh­ung der Demo­kratie bekäm­pfen wollen, muss jede*r wählen und Ent­schei­dungen treffen; jede*r muss ein*e Musamim werden.

Maziar Rezai

ist ein Designakti­vist, Design­forscher, Design­stratege, Service­designer und Film­kritiker. Rezai hat einen Master-Ab­schluss in Industrie­design von der Azad Uni­versi­tät in Teheran und hat als Doktor­and an der Köln Inter­national School of Design (KISD) studiert. Derzeit ist er Doktor­and an der Hoch­schule für Bildende Künste Braun­schweig (HBK), Gast­dozent am Institut für Kognitions­wissen­schaft­liche Studien und war zuvor Gast­dozent an der Kunst­universität Teheran im Iran. Sein erstes Buch „Design and Democracy“, das in Zusammen­arbeit mit Prof. Michael Erlhoff († 2021) ent­standen ist, enthält zwölf Texte von nam­haften Design­forscher­*innen aus aller Welt und ist 2021 im Birkhäuser Verlag in Basel erschienen.