Remote work ist nur möglich, wenn es eine schnelle Internetverbindung gibt. Bild © Andreas Henkel

DESIGN DISKURS

In einem Selbstversuch steche ich mit einem Segelboot in die Ostsee, um von dort aus zu arbeiten. Auch meine Kolleg*innen lassen sich nur noch selten in der Agentur in Berlin-Kreuzberg blicken. Doch wie wird sich die neue remote work-Arbeitsweise auf unsere Bürokultur auswirken?

Veröffentlicht am 27.07.2020

Anfang Juli habe ich einen Selbst­versuch gestartet: Wenn alle im Home-Office arbeiten, wes­halb kann ich dann nicht für 14 Tage Boat-Office machen? Gedacht, getan: Ich setze auf einem Segel­boot, Baujahr 1968, aus Holz, 9,7 Meter lang und nur 2,3 Meter breit, von Uecker­münde aus aufs Meer. Ich ver­suche die Strecken während der freien Zeit zurück­zu­legen und zum Arbeiten in einem Hafen ein­zu­kehren, denn ohne den Strom vom Land und WLAN steigt der Stress und so brauche ich mich nicht um leere Akkus oder ein auf­ge­brauchtes Daten­volumen zu kümmern.

 

Die Sache ist doch komplizierter

An meinem vierten Tag ziehe ich erste Zwischen­bilanz. Ich bin nicht sonder­lich weit ge­kommen: Nach drei Tagen im Stadt­hafen in Uecker­münde (gutes WLAN, Strom, Duschen und Einkaufs­möglich­keiten) bin ich nun im Natur­hafen Krummin auf Usedom, obwohl ich gerne schon längst in Stral­sund sein wollte, doch es gab zu viel Wind. Jetzt sitze ich in Krummin fest – und das ohne WLAN. „Die Telekom verspricht uns seit über zwei Jahren ein bessere Leitung...“, sagt der Hafen­meister. Und ohne LTE!? In Uecker­münde mit WLAN konnte ich auf dem Boot super arbeiten. Ich saß am Tisch im Salon, habe genau das getan, was ich im Büro, im Home-Office oder selbst bei Oma gemacht hätte: Mails gecheckt, Google- oder Slack-Telefonate geführt. Im Natur­hafen Krummin auf Usedom ist die Sache aber komplizierter.

Blick in die Kajüte beziehungsweise das neue Boat-Office. Bild © Andreas Henkel

Was mich an der Situation dennoch begeistert, ist, dass sie irre Möglich­keiten eröffnet. Ich genieße es, frei zu bestimmen, wo ich arbeiten will. Ich frage mich aktuell, was da noch gehen könnte? Arbeiten in einer Hütte in den Bergen? In einem Haus auf Lanza­rote? In einer Siedlung von Tiny Houses im Oder­bruch? Im Prinzip macht nur die Verfüg­barkeit von schnellem Internet einem den Strich durch die Rech­nung. Und die CO2-Bilanz für die An­reise. Doch dann stellt sich auch die Frage: Wenn dieser „Reichtum“ an Arbeits­platz­optionen nicht nur mir, sondern allen Kolleg*innen zur Ver­fügung stünde, was würde das mit unserem Büro und den Mit­arbeiter*innen machen?

 

Das Büro ist viel zu leer

Unser Büro in Berlin-Kreuz­berg ist ein schöner Ort, hat eine gute Atmos­phäre. Besucher­*innen kommen zu uns und fühlen sich sofort wohl. Das Büro verteilt sich auf drei unter­schiedliche Etagen: Eine mit einer klassischen Büro­kon­figuration, dann ein großer Raum für Work­shops und Treffen aller Mit­arbeiter­*innen, der in einer ehe­maligen Schmiede ange­siedelt ist, sowie eine ganz neu ange­mietete Remise mit einer großen Küche. Als ich im Juni im Büro war, stellte ich fest, dass nur fünf von 30 Mitarbeiter­*innen anwesend waren, ob­wohl offiziell seit Anfang Juni die Räume genutzt werden dürfen. Fünf Menschen auf insgesamt 610 Quadratmeter verteilt – was für ein Unsinn! Die rest­lichen 25 Kolleg­*innen zieht es schein­bar nicht un­bedingt an diesen Ort.

Nach der anfäng­lichen Auf­regung und Freude sind nun über 100 Tage in neuer Arbeits­weise vergangen, die Abwechslung hat sich in Routine um­ge­wandelt. Wir arbeiten daheim, bei den Eltern, im Ferien­haus. Kurzum: Wir arbeiten über ganz Deutsch­land verteilt. Ein Grund ins Büro zu fahren, wäre, dort die anderen Kolleg­*innen zu treffen. Ist keiner da, gibt es keinen Grund. Denn die Projekte laufen super von zu­hause, alle sparen sich gerne den Weg und erledigen mal neben­bei noch die Wäsche. Es funktioniert bisher gut.

 

Ergebnisse der Büroumfrage: Die Prozentsäule links im Bild gibt die Arbeitszeit an. So entsprechen 100 Prozent fünf Arbeitstagen, 80 Prozent vier und so weiter. Grafik © HENKELHIEDL.

Und mir selbst geht es nicht anders. Eine Umfrage unter unseren Kolleg­*innen hat er­geben, dass eigentlich nur noch einer 100 Prozent im Büro an­wesend sein will. Aus­ge­rechnet der Kollege, der meistens erst um 11 Uhr ein­trifft und dann eine Nacht­schicht ein­legt. Die Mehr­heit möchte zwischen zwei und drei Tagen die Woche ins Büro kommen. Vier Leute spielen mit dem Gedanken, aufs Land zu ziehen und dort sogar zu 100 Prozent zu arbeiten.

Bei aller Euphorie suchen wir fieber­haft nach Möglich­keiten, die Kultur unserer Unter­nehmen in der neuen remote work-Arbeits­weise zu er­halten. Darüber sprachen wir auch beim letzten „Küchen­kabinett“ des DDC. Es scheint für einige Agenturen schwer zu sein, dass die Kolleg­*innen über die Entfernung mit­einander Kontakt halten. Sogar die­jenigen, die sich seit vielen Jahren kennen und bisher täglich im Büro neben­ein­ander­gesessen haben, brauchen deutlich mehr Energie, um die kleinen, aber so wichtigen Zwischen­mensch­lich­keiten am Laufen zu halten. Es schleicht sich ein, dass Leute in den großen Video-Calls ab­wesend sind oder einfach die Kamera aus­lassen. Interne Jour fixe aller Gewerke werden (fast) immer ver­schoben oder ab­gesagt. Vom „lernenden Büro“ kann man bei uns zumindest kaum noch sprechen, maximal noch von „lernenden Projektteams“.

 

Neues Narrativ für Büro­kultur gesucht

Es braucht neue Leit­motive für die gemein­same Arbeit an den Projekten und ein neues Narrativ für das Büro als Ganzes. Denn wie sonst sollen neue Mit­arbeiter­*innen, Praktikant­*innen und Azubis sich mit uns identi­fizieren? Ein Teil von uns werden? Wissen, wie wir die Dinge hand­haben? Was die Beziehungen zu den Kund­*innen angeht, sind wir schon einen Schritt weiter – vielleicht können wir das auch auf interne Prozesse über­tragen: Dort wird aus Zu­sammen­arbeit in jüngster Zeit mehr und mehr Kolla­boration und Partner­schaft. Wir arbeiten enger mit den Kunden zusammen, beteiligen sie intensiver an den Konzepten, nutzen ihr Fach­wissen über Märkte, Geschäft und Methoden. Je mehr Schnitt­stellen wie Miro, Jira, Teams, Google-Apps und Video­konferenzen wir ein­setzen, desto intimer der Einblick und die Zusammen­arbeit mit den Kund*innen.

Die Bürokultur und die damit verbundene Gemein­schaft geben Halt. Auch wenn es nicht allen leicht fällt, ihren Teil zum Gelingen einer guten Büro­kultur bei­zutragen. Sie geht über das bloße Geld­ver­dienen hinaus, denn „nur“ wegen der tollen Projekte fängt keiner bei uns an. Durch die aktuelle Situation werden Dinge verstärkt, die vorher schon da waren. Und darüber hinaus wirft sie Fragen auf: Wie gehen wir Menschen mit solchen Heraus­forder­ungen um? Was passiert, wenn uns die Folgen des Klima­wandels noch härter treffen? Noch mehr gravierende Pan­demien kommen? Wenn wir der Um­welt zuliebe in unserer Mobilität und der Gesund­heit zuliebe in den Kontakten ein­geschränkt wären, wie soll dann so etwas Triviales wie ein Büro noch irgendeine Bedeutung haben? Nun, für mich hat es eine. Und sie ist existenziell, da sozial.

Das Büro von HENKELHIEDL. in Berlin-Kreuzberg zu Corona-Zeiten. Bild © Andreas Henkel

Es braucht ein Mindest­maß an Büro. Wenn auch anders als vor Corona. Von den 30 Leuten hätte ich gerne 15 bis 20 täglich im Office. Sie sollten so wechseln, dass sich im Laufe des Monats alle mal begegnen können. Und es gibt regel­mäßig gemeinsame Events, zum Beispiel backen, grillen, kickern wir zusammen – was auch immer. Wir würden dann sogar in eine der Etagen passen. Um die anderen nicht auf­zugeben, ver­suchen wir aktuell eine Arbeits-WG daraus zu machen und nehmen eine Film­produktion als Unter­mieter mit rein, deren Mit­arbeiter­*innen sich unter uns mischen.

 

Im Büro muss was los sein

Zusätz­lich müssen die Räume an die neuen Anfor­der­ungen ange­passt werden: Tele­fonate finden öfter an Rechnern statt. Dann treffen sich wieder welche vor Ort oder anders­wo. Ab und zu treffen sich dann sogar alle analog. So könnte die zu­künftige Arbeits­situation aussehen. Von der Mischung mehrerer Firmen und Kreativ-Dis­ziplinen unter einem Dach ver­spreche ich mir, dass mehr los ist und es interes­sant sein könnte. Neue Leute, ähnliches Business, andere Spezia­lisierung. Gerne hätte ich sogar noch jemand ganz anderes mit drin, zum Bei­spiel eine*n Keramiker*in. Im Büro muss was los sein, ich will dort Ab­wechs­lung, Leute, Inspiration. So dass am Ende das Büro eine deutliche Ab­wechs­lung zum Home­office bietet. Dann komme ich auch gern ins Büro.

„Es braucht ein Mindest­maß
an Büro.“

Das wäre ein Ansatz für eine neue Büro­kultur, die lokal ver­schiedene räumliche Möglich­keiten für Gesellig­keit, Inspiration und Arbeit bietet und darüber hinaus ver­schiedene Nutzungs­szenarien und Arbeits­situationen in remote work zulässt, um orts­un­abhängige und eigen­ver­antwortliche Kolla­boration und Zusammen­arbeit zu er­möglichen. Jede*r ent­scheidet selbst: Wann arbeite ich? Wo arbeite ich? Wie arbeite ich? Mit wem arbeite ich? Zugleich ist das Büro eine partner­schaft­liche Mischung und Netz­werk unter­schiedlich­ster Firmen, um gemein­sam den finanz­iellen Teil zu schultern und die Verant­wortung auf mehrere Unter­nehmer*innen auf­zuteilen. So könnte eine neue Kultur entstehen, die von Anfang an auf Er­weiterung und Netz­werk ausgerichtet ist.

 

Und die Kundin oder der Kunde?

Und wie gehen wir vor dem Hinter­grund dieser neuen Büro­kultur mit unseren Kund­*innen um? Wie binden wir sie sinn­voll und erfolg­reich in diese Prozesse ein? Derzeit arbeiten wir in drei Projek­tmodellen mit den Kund­*innen: Bei Modell „Lead­agentur“ entwickeln wir das Corporate Design und die Marke weiter und wenden beides im Rahmen von Kommu­nika­tions­maß­nahmen an. Viele Teil­projekte im Jahr er­fordern ein diverses Team, die Ideen zu den Projekten ent­stehen beim Kunden selbst, bei uns oder gemein­sam im Ge­spräch. Beim Modell „Werk­bank“ hat der Kunde so viel zu tun, dass er es nicht alleine schafft oder es sind Themen dabei, die einen Spezialisten erfordern. Das passiert monatlich im Rahmen eines bestimmten Budgets und auf Zuruf. Zu guter letzt gibt es das Modell „Projekt“: Ein einzelnes Projekt wird über einen bestimmten Zeit­raum von uns konzipiert und gestaltet. Danach endet die Zusammen­arbeit oder es gibt einen Wartungs­vertrag (siehe „Werkbank“) oder es gibt irgend­wann ein neues Projekt.

Es wird ein starkes Um­denken auch in den Konzernen und Firmen brauchen, mit denen wir arbeiten. Damit die Projekt­leiter­*innen oder Fach­kräfte aus den Konzernen sich ebenfalls die Zeit nehmen können, um mit uns in einer bestimmten Projekt­phase in einem Haus auf dem Land gemein­sam an den IT-Prozessen, der Web­site­struktur oder der Content-Strategie zu arbeiten. Wir brauchen einen Weg, um als Team (Kunde/Agentur) gemein­sam das Ver­trauen der Ent­scheider in den Konzernen zu gewin­nen, dass bei solch einer engen Kolla­bora­tion nicht nur Zeit und Geld gespart werden kann, sondern auch bessere Ergeb­nisse erzielt werden können. Vertrauen braucht es auch von unserer Seite aus, und zwar in das neue Modell, weg von ver­kaufter Zeit hin zu ver­kauften Werten und Leistungen oder zu erreichenden KPIs. Der Zeit­auf­wand wird gemeinsam geplant und geschätzt. Wann, wie und wo die Zeit dafür erbracht wird, ist dann egal. Somit muss auch nie­mand mehr Sorge haben, dass die anderen in den Tiny Houses am See „nur Grillen, Baden und Spaß­haben“, so­lange am Ende alle die Ziele erreicht haben.

Das, was wir bisher Agentur nennen, wäre dann die Infra­struktur, Prozesse und Fach­­kompe­tenz. Je nach Aufgabe würden neue Teams gemein­­sam mit Kunden individuell zusammen­­­gesetzt, wie eine gemein­­same Mini­­agentur auf Zeit. Und dann in zwei Wochen mit dem Boot in der Dänischen Südsee zusammen mit einem­*er Entwickler­*in, einem­*er Designer­*in und jemandem aus dem Unter­nehmen eine Microsites umsetzen.

Andreas Henkel

studierte in München Kommunikationsdesign. Danach arbeitete er bei Elephant Seven Hamburg als Art Director und ab 1999 bei Pixelpark als Creative Director. Von 2000 bis 2006 war Andreas Henkel Dozent an der design akademie berlin. 2003 gründete er mit Bärbl Hiedl zusammen in Berlin das Projektbüro :HENKELHIEDL. Dort arbeiten 30 Personen an digitalen Marken- und Kommunikations­projekten vom Design bis zur technischen Umsetzung.