DESIGN DISKURS
Wenn Designer*innen im Zeitalter der Digitalisierung weiter ent-werfen und sich nicht unter-werfen wollen, müssen sie Ordnungs- und Spürsinn sowie Materialkompetenz als wesentliche Fähigkeiten stärken. Gleichzeitig ist eine klare, öffentliche Haltung der Design-Profession für das Digitale notwendig.
Design ist als Profession in die instabile Gegenwart des Zeitalters der Digitalisierung hineingeworfen. Diese ist wesentlich durch neue Technologien (= Materialien), neue Fertigungsweisen und ein veränderndes gesellschaftliches Umfeld geprägt. Probleme und Lösungen lassen sich schon längst nicht mehr voneinander trennen, und sind – Designer*innen wissen das ja schon länger – vielmehr wie „siamesische Zwillinge“ 1 miteinander verbunden.
Geworfenheit in das Zeitalter der Digitalisierung
Die klassische Trennung in Problemverständnis und Anforderungsdefinition auf der einen Seite, sowie Gestaltung und Konstruktion der Lösung auf der anderen Seite funktioniert so nicht mehr. Gute Lösungen zu liefern erfordert das Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlichster Spezialist*innen. Beliebte Hilfsmittel der letzten Jahre wie Design Thinking und agile Entwicklungsmethoden haben in der Praxis komplexer Problemlösung mittlerweile ihren Grenznutzen erreicht. In diesem allgemeinen Umfeld der digitalen Welt kommen Designer*innen nicht darum herum, sich mit einer neuen „Psychodynamik der Unbehaustheit“ 2 auseinanderzusetzen, zu der unter anderen Dinge wie der Genuss am Enttäuschtwerden, am Verzicht aber auch am Innenleben gehören. Um eine allgemeine Komplexitätstoleranz zu entwickeln, ist eine Disruption der psychischen Selbstregulation gefordert.
„Aus meiner Sicht sollte aktuell
hier der Fokus vor allem auf Feeling im Verständnis von Gespür und Seeing im Verständnis von Ordnungssinn gelegt werden.“
In dieser Geworfenheit des Design ist es wichtig, auf die wesentlichen, notwendigen Fähigkeiten zu fokussieren. Aber welche sind diese? Marty Neumeier macht in seinem Buch „Metaskills: Five talents for the robotic age“ mit den fünf Fähigkeiten Feeling, Dreaming, Seeing, Making, Learning einen Vorschlag. 3 Aus meiner Sicht sollte aktuell hier der Fokus vor allem auf Feeling im Verständnis von Gespür und Seeing im Verständnis von Ordnungssinn gelegt werden. Zusätzlich braucht es jedoch auch eine solide Materialkompetenz, die vor allem mit dem überreichen Angebot von technologischen Möglichkeiten umzugehen weiß.
Fähigkeiten und Haltung für das digitale Zeitalter fördern
Des Weiteren sehe ich die öffentliche Notwendigkeit, dass die Design-Profession ihr Selbstverständnis für das Zeitalter der Digitalisierung schärft. Mit dem Digital Design Manifest 4 des Bitkom liegt hier hierzu ein Anknüpfungspunkt auf dem Tisch. Für den Bereich der Weiterbildung knüpft hieran das Zertifizierungsschema Digital Design Professional an. 5
Fokus auf Ordnungssinn (Seeing)
In Gestaltungsprozessen sind wir mehr denn je darauf angewiesen, verschiedene Denkansätze und Handlungsweisen zu integrieren. Findet dieses nicht statt, droht die Dominanz einer zu verallgemeinerten Übersicht auf die Dinge (zum Beispiel aus einer klassischen Management-Perspektive), anstelle integrierter Einsichten aus spezialisierten Perspektiven. 6
Ein praktisches Hilfsmittel für die Integration bietet die allgemeine Systemtheorie beziehungsweise Kybernetik. Mit dieser können Modelle von beliebigen Erfahrungsbereichen konstruiert werden. Für die Gestaltung sozio-technischer Systeme wurde sie in besonderer Weise durch den Technikphilosophen Günter Ropohl praktisch ausformuliert. 7 Als einheitliche Sprache für die Modellbildung ermöglicht die allgemeine Systemtheorie Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Verknüpfungen offenzulegen und herauszuarbeiten.
Die allgemeine Systemtheorie kann den gestalterischen Handlungsraum für das Design im digitalen Zeitalter grundlegend strukturieren und wesentliche Orientierungspunkte definieren.
Die Systemtheorie kann Designer*innen im Wesentlichen bei folgenden Dingen dienen:
1) Verortungen des jeweils eigenen kognitiven „Point of View“ 8
2) Reduzierung „blinder Flecken“ durch eine systemische Beobachtung des Gestaltungsprozesses
3) Barrieren aus dem Umfeld rechtzeitig „auf dem Radar“ haben 9
4) Den Gestaltungsprozess bis zum Ende der Realisierung mitbegleiten 10
Fokus auf Spürsinn (Feeling)
Einen Gegenpol zu der gesteigerten Abstraktionsleistung des Ordnungssinns stellt der Spürsinn als persönlich erlebte Resonanz zu einer Situation, einer Aufgabe oder einem Objekt dar. Voraussetzung für diesen ist eine Lockerung beziehungsweise Auflösung eigener Festgefahrenheit nicht nur im Denken, sondern des gesamten Kreislaufs von Wahrnehmung, Denken und Ausdruck. 11
Die Lockerung beziehungsweise Auflösung eigener Festgefahrenheit erfordert dabei ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung und Eigenreflexion. Beides sind für das Design keine neuen Dinge, und durch die Idee des Designs als „reflective practice“ im Designdiskurs auch stark verankert. 12 Ein stimmiges „Gefühl des in-Berührung-Sein-mit“ 13 ist jedoch nicht selbstverständlich.
„Digitale Technologie ist dabei nicht nur das Material für die Gestaltung von Problemlösungen, sondern dient auch der Herstellung neuer Gestaltungswerkzeuge.“
Doch genau diese Art des Fühlens ermöglicht dem Design „Zugang zum Nuancenreichtum unserer Erfahrung [...], der von Abstraktionsprozessen übersehen wird, und diesen als Ressource, selbst für Abstraktionsvorgänge, zu nutzen“. 14 Mit „Focusing“ 15 und „Thinking at the Edge“ 16 hat der der Philosoph und Psychologe Eugene Gendlin hierzu konkrete Methoden entwickelt. Der Zugang zum Nuancenreichtum der Erfahrung ist nicht zuletzt für die produktsprachliche Gestaltung von Symbolfunktionen eine grundlegende Voraussetzung. 17
Fokus auf Materialkompetenz
Während lange Zeit die technologischen Möglichkeiten den Bedarfen hinterher hingen, hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgedreht. Es können bisher unerreichbare Ziele erreicht werden und es ergeben sich ganz neue Nutzenpotenziale. Daten, Netzwerke und Algorithmen sind die drei wesentlichen Faktoren des digitalen Zeitalters und unmittelbar mit den drei Leitthemen Big Data (Daten), Internet of Things (Netzwerke) und Künstlicher Intelligenz (Funktionen) verknüpft.
Digitale Technologie ist dabei nicht nur das Material für die Gestaltung von Problemlösungen, sondern dient auch der Herstellung neuer Gestaltungswerkzeuge. Diese bedingen mittel- und langfristig einen immer höheren Automatisierungsgrad des Designprozesses. Umso verständlicher ist es, wenn John Maeda betont, wie wichtig es ist, die „Sprache der Maschinen“ zu sprechen, um als Design-Profession Wirkmächtigkeit zu behalten. 18 Dieses wird spätestens dann offensichtlich, wenn bei der Gestaltung von KI-basierten Systemen die Vorgehensweise des Human Centered Design auf den Kopf gestellt werden muss. 19
Eine klare Haltung für Digital Design
Design hat eine diffuse öffentliche Wahrnehmung. Gerade im Hinblick auf die Mitarbeit an den anstehenden gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen muss sich die Design-Profession im digitalen Zeitalter jedoch klar positionieren. Denn nur so kann sie als wichtige Akteurin wahrgenommen werden und durch die Gestaltung systemrelevanter Dinge selbst Systemrelevanz beanspruchen.
Mit verschiedenen Autoren habe ich 2018 mit dem Digital-Design-Manifest des Bitkom e.V. eine konkrete Positionierung für die Design-Profession im digitalen Zeitalter formuliert. 4 Neben konkreten gesellschaftlich-politischen Forderungen wurde klar definiert, wofür Digital Design als Gestaltungsprofession des digitalen Zeitalters stehen sollte und was gutes Digital Design ausmacht.
Neue interdisziplinäre Studiengänge wie Design & Computation 20 in Berlin und Code & Context 21 in Köln greifen den Geist des Digital-Design-Manifests auf und beziehen sich explizit auf diesen. Mit dem Zertifizierungschema Digital Design Professional wurde anknüpfend an die Inhalte des Digital-Design-Manifests ein internationales Qualifizierungsangebot aufgelegt, bei dem im Foundation Level neben der Vermittlung eines Grundverständnisses vor allem die strukturierte Entwicklung von Designkonzepten für komplexe Lösungen steht. 5
Wenn Design im Zeitalter der Digitalisierung mittendrin statt nur dabei sein möchte und die Zukunft aktiv mit-entwerfen möchte, ist es jetzt an der Zeit für eine neue Generation des Designs. Es ist an der Zeit, „Gestaltungsingenieure“ im Sinne wie Dieter Rams es 1976 für die klassische Produktgestaltung formuliert hat, 22 für das digitale Zeitalter zu etablieren.