DESIGN DISKURS
Der Designwissenschaftler René Spitz berichtet im Interview mit Gerda Breuer über die neue Studie der iF Design Foundation, die erforschen soll, wie gesellschaftlich relevante Themen wieder als Teil eines ganzheitlichen Designverständnisses gesehen und in die Designlehre integriert werden können.
Gerda Breuer: Lieber René Spitz, Sie sind HfG-Ulm-Experte, Professor und Leiter des Studiengangs Mediendesign an der Rheinischen Hochschule in Köln und seit März 2021 Vorstandsmitglied der iF Design Foundation. In Ihrem DESIGN DISKURS vom 07. März 2021 im DDC Magazin berichteten Sie über die 250 internationalen Expert*innen, die die iF Design Foundation in einer Studie befragt und in Workshops zusammengebracht hat. Es ging darum, über eine neue Designlehre zu diskutieren. Diese Arbeit ist in das „Weißbuch zur Zukunft der Designlehre – Designing Design Education“ eingeflossen. Für das Grundlagenwerk, das von Christoph Böninger, Fritz Frenkler und Susanne Schmidhuber im März 2021 herausgegeben wurde, haben Sie den Text geschrieben und Interviews mit Designschulen in der ganzen Welt durchgeführt. Das Buch war ein großer Erfolg: In weniger als zehn Monaten war es vergriffen. Nun ist die Veröffentlichung als kostenloser Download verfügbar.
Inzwischen hat die iF Design Foundation eine neue Untersuchung durchgeführt, die sich mit dem Thema Public Value beschäftigt, um die es in unserem Interview gehen soll. Erläutern Sie uns doch bitte in aller Kürze, warum ausgerechnet die iF Design Foundation diese Untersuchung durchführte.
René Spitz: Am Anfang steht die Frage: Worin besteht die gesellschaftliche Verantwortung des Designs? Der Begriff Verantwortung meint wörtlich: Für eine Antwort zuständig sein. Die iF Design Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung. Deshalb wollen wir Antworten auf die Frage geben: Welchen Beitrag liefert das Design zum Gemeinwohl? Und weil wir eine Bildungsstiftung sind, interessieren wir uns speziell dafür, welche Rolle das Designstudium spielt.
Vor elf Jahren gab es die Stiftung noch nicht, damals war der Verein „iF Industrie Design Forum e.V.“ die Organisation. Dieser Verein richtete eine Tagung aus mit dem Titel: „Quo vadis Design?“. Christoph Böninger, einer der Vorstände des Vereins, hatte den Anstoß dazu gegeben, nachdem er das Buch „Form:Ethik“ über Wirtschaftsethik und Design herausgegeben hatte. Durch Timo Meynhardt, der an der Universität St. Gallen wissenschaftlich zu Public Value arbeitete, gelangte dieses Konzept in den Diskurs. Man könnte sagen, dass diese Tagung die Transformation des Vereins in die Stiftung ausgelöst hat. Und ein wesentlicher Bestandteil ist die inhaltliche Fokussierung auf die Entwicklung des Designstudiums als Faktor für das Gemeinwohl.
Eine gute Möglichkeit für den Start in die Arbeit ist eine Bestandsaufnahme. Das heißt für uns konkret: Welchen Beitrag leistet das Designstudium zum Gemeinwohl? Das Konzept Public Value dient für diese Messung als etabliertes wissenschaftliches Instrument. Wir haben diese Studie 2022 zum ersten Mal durchgeführt. Jetzt wiederholen wir sie und sind gespannt, ob sich Veränderungen ergeben.
Gerda Breuer: Sie haben kürzlich im Podcast 171 des „Ohne den HYPE“ ausführlich über die Bedeutung des Public Value für die Designlehre gesprochen. Ich habe dies mit großem Interesse verfolgt. Gehe ich recht in der Annahme, ausgehend von einer Ihrer ersten Thesen, dass das Handwerk von Design über Online-Medien für jeden verfügbar ist und Akademien deshalb obsolet sind, dass Sie nach einem neuen Schwerpunkt in der Designlehre Ausschau halten?
Ich darf Sie noch einmal in aller Ausführlichkeit zitieren: „Wer im Design arbeiten will, muss dafür nicht Design studiert haben. Es ist heute einfacher als jemals zuvor, sich Fachkenntnisse über sämtliche Details der Berufspraxis autodidaktisch anzueignen. Jede Frage, die das handwerkliche Ausführen und die serielle Vervielfältigung beziehungsweise Veröffentlichung eines Entwurfs betrifft, wird minutiös in Filmen behandelt. Die internationalen Video-Plattformen wie YouTube oder Vimeo liefern unzählige Antworten für Typografie, Bildbearbeitung, Layout, Anwendungsforschung (User Experience), Programmierung oder die Produktion. Auf den ersten Blick drängt sich der Eindruck auf, sämtliches Designwissen könnte nun in dieser Form digitalisiert vorliegen, und sei das Thema auch noch so spezialisiert.“
Ich halte das für eine gewagte These, aber sie ist heute gängig. Genauso wie viel über Public Value gesprochen wird. Viele Designhochschulen bemühen sich bereits darum. Wie sehen Sie nun die Integration von Public Value in die Designlehre und warum rückt diese Perspektive in den Fokus?
René Spitz: Vielleicht vorab zur ersten Frage, weshalb wir uns für Public Value interessieren, weil viele Kenntnisse, die für die Designpraxis relevant sind, heute nicht mehr beziehungsweise überhaupt nicht im Designstudium vermittelt werden: Nein, diese beiden Punkte sind für uns nicht so eng verknüpft. Mit dem Public Value des Studiums beschäftigen wir uns, weil das aus unserer Sicht nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hilfreiche Perspektive aufs Design darstellt. Darauf komme ich gleich zurück.
Es ist eine Tatsache, dass viele berufspraktische Kenntnisse, die noch vor zwei Jahrzehnten vorwiegend oder sogar ausschließlich im Studium erworben werden konnten, heute insofern demokratisiert sind, als sie über YouTube-Tutorials, Instagram-Stories, Websites und kostenlose PDFs verfügbar sind. Dafür braucht es keine Studie, ein Blick in Apples App-Store und in die Sozialen Medien genügt. Dort finden sich unendlich viele Angebote, die ehemals exklusives Fachwissen vermitteln: Fotografie, Film, Bildbearbeitung, Typografie, Layout, Farbtheorie, Harmonielehre, Gestaltgesetze, Designgeschichte – die Liste lässt sich beliebig fortführen. Vor allem gilt das für sämtliche technischen Werkzeuge, insbesondere Programme und Apps. Hier schreitet die Entwicklung auch so rasch voran und verändert sich so dynamisch, dass ein Transfer ins Curriculum von den Hochschulen kaum geleistet werden kann.
Was aber leistet das Studium und worin ist es nicht substituierbar? Erstens: Alles, was Synthese, Integration und kritisches Denken ausmacht. Die einzelnen Wissens-Häppchen auf YouTube sind isoliert, sie sind sozusagen nicht kuratiert. Das Studium liefert den kuratierten, sinnvollen Rahmen, um zu erkennen, wo dieses Detail hingehört. Zweitens: Im Studium lernen wir gemeinsam, wir bilden eine Gemeinschaft von Lernenden. Dieses gemeinschaftliche Lernen vertieft nicht nur das Gelernte, es ist auch die Voraussetzung für eine Anwendung auf Szenarien, die wir vorher nicht kennen – und daraus besteht die Berufspraxis. Drittens: Im Studium trainieren wir Verhaltensweisen, Abläufe und zwischenmenschliche Fähigkeiten, die für unsere Berufspraxis unerlässlich sind. Meine persönliche These lautet: Jegliche Tätigkeit, die keine „soft skills“ wie Empathie, emotionale Intelligenz oder Kritikfähigkeit erfordert, wird schon bald digitalisiert und dadurch monetär entwertet.
Zurück zur Integration von Public Value in das Designstudium. Im Grunde könnten wir sagen, es geht dabei um nichts anderes als das, was gegenwärtig gerne als „purpose“ bezeichnet wird. Im kurzen Begleittext zu unserer ersten Studie habe ich skizziert, dass die tragenden Bewegungen im Design immer einen starken gesellschaftlichen Bezug hatten. Angefangen bei Arts & Crafts, über den Deutschen Werkbund und das Bauhaus bis hin zur HfG Ulm. Selbst der Postmoderne unterstelle ich einen vehementen gesellschaftlichen Ansatz. Aber dieser Bestandteil des Designs ist in den vergangenen vier Jahrzehnten immer stärker in den Hintergrund getreten. Wir beobachten zugleich eine Segmentierung des Designdiskurses in unüberschaubar viele Spezialisierungen, so dass zum Beispiel politische und wirtschaftliche Aspekte zunehmend isoliert voneinander verhandelt werden. Als Stiftung möchten wir dieser Tendenz entgegenwirken und dazu beitragen, dass gesellschaftlich relevante Themen wieder als Teil eines ganzheitlichen Designverständnisses gesehen werden.
Wie kann es nun konkret gelingen, solche Aspekte in das Designstudium zu integrieren? Das ist der Gegenstand unseres momentanen Forschungsprojekts. Zusammen mit der Neuen Sammlung in München haben wir für drei Jahre (bis Ende 2025) einen offenen Campus organisiert. Dabei lernen wir auch von designfernen Disziplinen aus aller Welt, wie solche Inhalte ganz praktisch in das Designstudium gelangen können.
Gerda Breuer: Wie sieht der Zeithorizont für diesen Fokus aus und mit welchen Instrumentarien soll die neue Ausrichtung in die etablierten Ausbildungsstätten implementiert werden? Es ist ja so, dass sich auch Hochschulen bereits dem Thema Public Value und Public Interest mit vielen Aspekten wie circulating, resourcing, Nachhaltigkeit und vielem mehr bereits zugewandt haben, noch viel stärker in benachbarten Disziplinen wie der Architektur. Angesichts der hautnahen Auswirkungen der Klimakrise und der zunehmenden Betroffenheit in unseren Breitengraden wird der Ruf nach alternativen Konzepten immer lauter und von vielen auch verstanden.
René Spitz: Wir verfolgen einen Bottom-up-Ansatz. Das heißt, wir wollen die einzelnen Lehrenden darin unterstützen, sich selbst zu konkreten Veränderungen der eigenen Designlehre zu befähigen. Wer möchte, kann damit sofort beginnen, denn ein Teil der Impulse, die wir in den vergangenen zwei Jahren gesammelt haben, können schon auf der Website der Stiftung abgerufen werden. Vielleicht ist noch folgende Ergänzung wichtig: Public Value ist nicht synonym mit Konzepten wie Public Interest oder Social Impact. Es gibt ja noch mehr Begriffe, die auf das Gesellschaftliche abzielen, insbesondere alles, was mit Nachhaltigkeit verbunden ist. Aber Public Value ist ein spezifisches, wissenschaftlich definiertes Konzept. Wir könnten sagen: Es ist ein Maßstab, um den Beitrag einer Organisation zum Gemeinwohl zu messen. Und weil ein Studiengang eine Organisation ist, lässt sich dieses Konzept aufs Designstudium anwenden.
Gerda Breuer: Verraten Sie uns noch, welchen qualitativen Schritt Sie nun weitergegangen sind oder besser: nach einer großen Befragung als weiteres Szenario Ihrer Untersuchung imaginieren? Viele von uns haben die Aufforderung bekommen, sich an der Befragung zu beteiligen. Gibt es erste Ergebnisse?
René Spitz: Unser Wunsch lautet, die Gemeinwohlorientierung im Designstudium erheblich zu stärken. Wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen – es gibt noch keinen Zwischenstand –, werden wir erneut überlegen, was wir tun können, damit verständlich wird: Public Value ist nicht die Kirsche auf der Sahne, Public Value ist der Kuchen. Anders gesagt: Das Gemeinwohl ist die Grundlage von allem und nicht die Störung des Regelbetriebs.
Gerda Breuer: Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch. Wir werden aufmerksam verfolgen, wie und ob sich Public Value tatsächlich in der Designlehre an vielen Orten wiederfindet.
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