Illustration © Jessica Krejci

DESIGN DISKURS

Weshalb Design – vor allen Dingen – strukturrelevant ist

Veröffentlicht am 12.04.2021

Unsichtbar sei das Design (Lucius Burkhardt, 1980), von eigener Wissensweise (Nigel Cross, zuerst 1982), auf die Nerven wirkend, nicht auf das Auge (Margarete Schütte-Lihotzky, 1993), a priori undiszipliniert (Michael Erlhoff, 2010) und potenziell weltverbessernd (DDC, 2020/2021), um nur eine kleine Auswahl von dessen Vor-Bild­lichkeit zu nennen. Und die­jenigen, die das Feuil­leton noch nicht vollends an die Ober­flächlich­keit verloren glauben (siehe Markus Frenzl, 2020), sind darüber hin­aus wahr­lich hin- und her­ge­rissen von Zu­schrei­bungen großer Spann­weite: An einem Tag sollen wir das Design abschaffen (Niklas Maak, im Januar 2020), an einem anderen sollen uns – gott­gleich – die Designer vor dem Bösen retten (auch Niklas Maak, nun im Dezember 2020). Und last but not least können wir auch noch dem einst für seine BMW-Ent­würfe geschol­tenen und im Nach­hin­ein dann als Visionär gefeierten Chris Bangle unsere Auf­merk­sam­keit schenken, dem­zufolge das „Auto­design [...] viel zu wichtig [ist], um es nur den Designern zu überlassen“ (2021). Offenbar kann das Design wie keine Disziplin nach Belieben aufgeladen und aus­geladen werden. Ein Zustand, den auf­zu­lösen ich Sie einladen möchte.

Auf den ersten Blick scheinen die Dinge einfach: Wir wissen immer mehr – mehr, als uns lieb ist, mehr, als wir sagen (können oder wollen), mehr vor allem, als sich aus unserem Handeln rück­schließen lässt. Anders und zuge­spitzt gesagt: Die Dis­kre­panz zwischen trans­parentem Denken und intrans­parentem Handeln wird täg­lich größer. So können wir wissen – ein Bei­spiel aus aktu­ellem Anlass –, dass Pandemien vorrangig durch Zoo­nosen, also Krank­heiten, die von Menschen auf Wild­tiere wie von Wild­tieren auf Menschen über­gehen, verursacht werden. Und nur zu gut können wir auch wissen, dass die Zunahme von Zoo­nosen auch damit zusammen­hängt, dass immer mehr Flächen unter anderem für die land­wirt­schaftliche Produktion genutzt werden, somit die Lebens­räume von Wild­tieren zerstört und die Über­schneidungen der Lebens­räume von Tieren und Menschen zunehmen.

Statt nun vorrangig das Nahe­liegende zu tun, die Ursache (infra)­struk­tur­ell anzu­gehen und die industrielle Land­nutzung lang­fristig zu trans­formieren, Stichwort Landwende, priorisieren gewählte wie nicht ge­wählte Delegierte des Globalen Nordens weiterhin ein Vor­gehen mit von­ein­ander ab­hängigen und ab­hängig machenden Systemen, deren aller Praxis sich bei genauerer Betrach­tung als elitär heraus­stellt. Um im Beispiel zu bleiben: Der solidarischen Ver­teilung des Corona-Impf­stoffes unter allen Menschen welt­weit (angesichts einer Pan­demie wohl nicht die ab­wegigste Option) standen und stehen die meisten beteiligten Systeme – Wirt­schaft, Politik, Logistik, Gesund­heit, Forschung etc. – entgegen. Geschehen kann dies, weil es sich eine Minder­heit in industri­alisierten Gesell­schaften auf Kosten der globalen Mehrheit erlaubt, sich vorzu­drängeln, Privilegien zu bean­spruchen und ihre Finanz­kraft spielen zu lassen – mit­hin also bekanntes Herr­schafts­handeln an den Tag legt.


Struktur und System

„Vor dem Hinter­grund eines vor­herr­schenden kritischen Diskurses, der das Design als Akteur sozialer, politischer und öko­logischer Ver­änder­ungen darstellt, ist es wichtig, sich daran zu erin­nern, dass es nicht ausreicht, ,für‘ oder gar ,mit‘ dem anderen zu gestalten. Designende und Design­forschende im Globalen Norden müssen auch er­kennen, wie und warum sie ihre Gestal­tungs­akte aus den Positionen her­aus aus­führen, die sie ein­nehmen“, schreibt Mahmoud Keshavarz in seinem Beitrag „Violent Compas­sions: Humani­tarian Design and the Politics of Borders“ (2020) (Gewalt­tätige Mit­leids­bekun­dungen: Humani­täres Design und die Politik der Grenzen).


„Je nach Pers­pektive kann das Design also system­relevant oder struktur­rele­vant sein.“


Das ist ein ent­schei­den­der Hinweis, denn Design­ende können auf zwei gegen­sätz­liche Weisen agieren. Als Produkt­ent­werfende wissen sie sehr genau, wie sie system­ische Ab­hängig­keiten schaffen können – mit Nach­füll­geschäft, Spezial­werk­zeug, Inkompa­ti­bilität und Obso­les­zenz. Damit tragen sie zur Stär­kung von aus­schließ­lich an ihrer Selbst­er­haltung interes­sierten Sys­temen bei. Als Prozess­ent­werfende wissen sie aber ebenso sehr genau, wie sie diese system­ischen Ab­hängig­keiten ver­hindern können – mit Update­fähig­keit, Open Source, Parti­zi­pation, sowie Auf­wertung (durch Ästhetik, Inter­aktion und Narra­tion). Mit diesen Kor­rektur- und Modi­fikations­optionen stärken sie die Varia­bili­tät von Strukturen.

Je nach Perspek­tive kann das Design also system­relevant oder struktur­relevant sein. Auf der einen Seite vermag es Systeme zu optimieren und wird in dieser Lesart von vielen gern als Disziplin gesehen. Auf der anderen Seite ist das Design eine system­unab­hängige, nicht an eine einzelne Disziplin ge­bun­dene Kompetenz (a priori un­diszi­pliniert, siehe oben) und damit eine struktur­elle Kate­gorie wie Beziehung, Moment, Nerven (siehe ebenfalls oben) oder Sprache.


Freiheit von Sicherheit entkoppeln

„Wo Wissen und Handeln sich getrennt haben, gibt es keinen Raum für Freiheit“, schreibt Hannah Arendt in ihrer 1963 erschienenen Analyse „Über die Revolution“. Faktisch haben wir in den ver­gan­genen Jahr­zehnten immer mehr Räume für Frei­heit auf­ge­geben. Wir haben uns zwar mittler­weile von einem dichten Netz detail­lierten Wissens um­garnen lassen und damit ab­ge­sichert, aber gleich­zeitig sind wir in diesem Netz so ver­strickt, dass wissen­(schaft)sadä­qua­tes Handeln so viele Aspekte berück­sichtigen muss, dass eine Differen­zierung zwischen richtig und falsch nahezu un­möglich wird. Auf den zweiten Blick scheinen die Dinge nicht mehr ganz so ein­fach, sondern geradezu dilem­matisch. Auch hier hilft ein Blick auf den welt­weit dispa­raten bis hilflosen Umgang mit der Corona-Pandemie.

Da wir uns aber ungern einge­stehen wollen, uns frei­willig (und andere wider deren Willen) der Frei­­heit zu berauben, ignorieren wir gerne das Dilemma: Wir koppeln dann (struk­turelle) Frei­heit so eng an (system­ische) Sicher­heit, bis wir über deren grund­sätzliche Differ­enz hin­weg­sehen und dann Sicher­heit für die Basis von Frei­heit halten. Dabei ver­drängen wir, dass Frei­heit der Gefahr mit Rück­sicht, Um­sicht und Vor­sicht begegnet, Sicher­heit hin­gegen nur die Bedroh­ung kennt, der ledig­lich mit dem Aus­schließen (von Teil­habe), dem Beschließen (von Privi­­le­gien) und dem Weg­schließen (von Gegen­konzepten und Oppositio­nellen) bei­zu­kommen ist.


Solidarität, kein Mitleid

Das Koppeln von Frei­heit an Sicher­heit bis zur Ununter­scheid­barkeit ist kein Einzel­fall. Auch andere struktur­elle Kate­gorien koppeln wir gerne an systemische: Wachs­tum an Akku­mu­lation, Nach­haltigkeit an Green New Deals, Arbeit an Lohn­zahlung, Soli­dari­tät an Mit­leid und vieles andere mehr.

Zurecht hat Boris Kochan in seinem DDC DESIGN DISKURS-Beitrag „Politisiert Euch!“ zur Soli­dari­tät aufgerufen. Als politische Kate­gorie formt Soli­darit­ät Interessen­gemein­schaften mit dem Ziel der Teil­habe und Frei­heit für alle Menschen. Soli­darität unter­scheidet sich dabei grund­legend von Aktionen des Mit­leids. Denn trotz gut gemeinter Absicht trägt von Mitleid motiviertes Handeln immer auch zur Ver­steti­gung von Situ­ationen der Un­freiheit und der Nicht-Teil­habe bei. Das wiederum kommt den Interessen­gruppen selbst­erhaltender Systeme durch­aus gelegen, denn so können sich deren Mit­glieder noch weiter vor­drängeln, noch mehr Privilegien bean­spruchen und noch finanz­stärker werden.

Hannah Arendt hat auch dieses in „Über die Revolution“ treffend analysiert: „… ohne Unglück gäbe es kein Mitleid, und Mitleid ist darum ebenso interessiert daran, daß es Unglück­liche gibt, wie der Macht­hunger daran interes­siert ist, daß Schwäche und Ohn­macht ihm in die Hände spielen.“


Design heißt, ans Ende zu denken, nicht vom Ende her

Wir sollten uns fragen und müssen uns fragen lassen, wie lange wir noch der Über­zeugung an­hängen wollen, mit systemischen Mitteln Res­sourcen und Menschen ohne schwer­wiegende Folgen meinen ausbeuten und Natur­phäno­mene mittels Arte­fakten beherr­schen, nach­ahmen und verbes­sern zu können. Denn trotz technisch heraus­ragender Leistungen wie Mond- und Mars­landung, Klonung oder KI ist das bisher weder der Fall, noch sind wir dem Ziel einer – für alle Menschen – besseren Welt damit ent­scheidend näher­ge­kommen. Das Gegen­teil ist der Fall, denn Wissen­schaft rekur­riert zwar auf das Leben, das Leben jedoch nicht auf Wissen­schaft – auch das führt uns die kleine Struktur namens Corona derzeit schmerz­haft vor Augen.


„Ans Ende zu denken,
fokussiert auf das Denken; dabei bleibt das Ende poten­ziell, was uns die Frei­heit gibt, es – bei neuen Erkennt­nissen etwa – neu oder umzu­denken.“


Dabei macht es meines Erachtens einen grund­legenden Unter­schied, ob wir ans Ende denken oder vom Ende her. Wenn ich als Kind meine Eltern am Schluss der Geschichten gefragt habe, wie es denn nun weiter­gehe mit Jim Knopf, Tom Sawyer, Pipi Lang­strumpf oder Pünktchen und Anton, sagten sie, das sei nicht das Ende, aber nun beginne der Teil für Er­wachsene. Wenn auch anders als ge­dacht, haben meine Eltern recht behalten, denn nun stellen viele der mittler­weile selbst Er­wachsenen die – durch­aus berechtigte – Frage, ob ihnen da im Kindes­alter nicht kolo­niales und aus­grenzendes Kultur­gut allzu kritik- und kommentar­los, mindestens aber naiv dar­­ge­­reicht wurde, und fordern ein Umdenken.

Ans Ende zu denken, fokussiert auf das Denken; dabei bleibt das Ende poten­ziell, was uns die Frei­heit gibt, es – bei neuen Erkennt­nissen etwa – neu oder umzu­denken. Designende über­tragen das längst in ihre täg­liche Praxis, nehmen sich die Frei­heit, im Laufe eines Prozesses neu oder umzu­modellieren. Sie nennen es Iteration. Vom Ende her zu denken, klingt zwar ähnlich, behauptet aber da­gegen, das tat­säch­liche Ende zu kennen. Dieses Denken fokus­siert auf das behauptete Ende, was Sicherheit suggeriert, mit all ihren oben genan­nten Folge­erscheinungen.

Mit ihren intellek­tuellen, empathischen und prak­tischen Skills können Designende über Diszi­plin­­grenzen hinweg sämtlichen Prozessen zur struktur­ellen Entfal­tung ver­helfen. Das mag manchen, deren Disziplin sich mitunter schon seit Jahr­hunderten aus­schließ­lich dem system­ischen Fort­schritt ver­schrieben hat, nicht behagen; dem vergleichs­weise jungen Design aber, so paradox das er­scheinen mag, beschert es glänzende Zukunfts­aussichten.

In diesem Sinne würde ich den eingangs er­wähnten Satz von Chris Bangle um­kehren: Designende sind viel zu wichtig, um ihnen nur das Auto­design zu überlassen.

Gewöhnen wir uns an den Gedanken, sind wir so frei und kommen gemeinsam ins Handeln.

Anmerkung des Autors zur gendergerechten und inklusiven Sprache ohne Programmcode

Sprache ist Struktur, während Code System ist. Auch das ignorieren wir gerne, wenn wir etwa mit den Programm­codes (Algorithmen) Alexa, Google und Siri zu sprechen glauben. Die Sprache lebt von der Prägnanz der Sprechen­den und Schreiben­den, der Code verlangt die Präzision der Pro­gram­mieren­den; die Unver­ständ­lich­keit der Sprache ist das Miss­ver­ständ­nis, die des Codes ist das Rauschen. Aus Gründen der Rausch­unter­drückung plädiere ich für eine gender­ge­rechte und inklu­sive Schreib- und Sprech­weise mit laut­sprach­lichen Mitteln (Gebärden­sprachen natürlich ausge­nom­men) und weniger mit unlauten Sonder­zeichen wie *, |, : oder _.

Substantivierte Partizipien – Teil­habende im wört­lichen Sinne – sind hierzu grund­sätzlich gut geeignet und sind im Sprach­ge­brauch längst ange­kommen (die Studierenden, die Beklagten etc.). Dass die Sprache – wiederum im Gegen­satz zum Code – jederzeit im­stande ist, sich bei Bedarf von system­ischen Fest­schrei­bungen zu befreien, zeigt folgendes Zitat aus Gustav Wust­manns Grammatik Allerhand Sprachdummheiten aus dem Jahr 1908: „Von Partizipial­substan­tiven – und ein solches ist auch der Beamte, d.h. der Beamtete, der mit einem Amte ver­sehene – können keine Feminina auf in ge­bildet werden; niemand sagt: meine Bekanntin, meine Geliebtin, auch Juristen nicht.“

Hieran anschließend, ließe sich lebhaft unter­halten und natürlich auch treff­lich streiten – über Unbe­kannte wie Unge­liebte. Codieren müssen wir die Sprache dafür nicht.

Quellen

Arendt, Hannah (1963), Über die Revolution

Burckhardt, Lucius (1970), Städtebauliche Utopien – Was hindert ihre Verwirklichung?

Cross, Nigel (1982), Designerly ways of knowing, Design Discipline, Open University, Milton Keynes, Bucks, UK

DDC Wettbewerb WAS IST GUT

Design Council (2020), Design Perspectives: Design Skills

Erlhoff, Michael (2010), Design als zuversichtlicher Widerspruch zur Wissenschaft. In: Positionen zur Designwissenschaft, Kassel University Press

Europäische Union (2019), Green New Deal

Frenzl, Markus (2020), Schafft die oberflächliche Designberichterstattung ab! In: DDC Magazin online vom 4. Februar 2020

Keshavarz, Mahmoud (2020), Violent Compassions: Humanitarian Design and the Politics of Borders, In: Design Issues, MIT Press


Kochan, Boris (2020), Politisiert euch! In: DDC Magazin online vom 5. September 2020

Maak, Niklas (2020), Schafft das Design ab! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online vom 6. Januar 2020

Maak, Niklas (2021), Rettet uns vor dem Bösen! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online vom 31. Dezember 2020

Nefzger, Emil (2021), „Wir könnten die Autos in riesige Bildschirme verwandeln". Interview mit Chris Bangle. In: DER SPIEGEL online vom 7. Februar 2021

Schütte-Lihotzky, Margarete, in einem Fernsehinterview aus dem Jahr 1993, gesehen in: 3Sat Kulturzeit, Sendung vom 11. Februar 2020 (nicht online verfügbar)

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen (2020), Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration

Wustmann, Gustav (1908), Allerhand Sprachdummheiten

Stephan Ott

(*1962) leitet das im März 2020 gegründete und beim Rat für Formgebung angesiedelte Institute for Design Research and Appliance (IfDRA). Von 2012 bis 2020 war er Chefredakteur der Zeitschrift form. Sein Studium der Germanistik mit dem Schwerpunkt Linguistik und Neuere Deutsche Literatur schloss er mit einer Arbeit über den Dichter, Philosophen und Designtheoretiker Dieter Leisegang ab.