DESIGN DISKURS
Weshalb Design – vor allen Dingen – strukturrelevant ist
Unsichtbar sei das Design (Lucius Burkhardt, 1980), von eigener Wissensweise (Nigel Cross, zuerst 1982), auf die Nerven wirkend, nicht auf das Auge (Margarete Schütte-Lihotzky, 1993), a priori undiszipliniert (Michael Erlhoff, 2010) und potenziell weltverbessernd (DDC, 2020/2021), um nur eine kleine Auswahl von dessen Vor-Bildlichkeit zu nennen. Und diejenigen, die das Feuilleton noch nicht vollends an die Oberflächlichkeit verloren glauben (siehe Markus Frenzl, 2020), sind darüber hinaus wahrlich hin- und hergerissen von Zuschreibungen großer Spannweite: An einem Tag sollen wir das Design abschaffen (Niklas Maak, im Januar 2020), an einem anderen sollen uns – gottgleich – die Designer vor dem Bösen retten (auch Niklas Maak, nun im Dezember 2020). Und last but not least können wir auch noch dem einst für seine BMW-Entwürfe gescholtenen und im Nachhinein dann als Visionär gefeierten Chris Bangle unsere Aufmerksamkeit schenken, demzufolge das „Autodesign [...] viel zu wichtig [ist], um es nur den Designern zu überlassen“ (2021). Offenbar kann das Design wie keine Disziplin nach Belieben aufgeladen und ausgeladen werden. Ein Zustand, den aufzulösen ich Sie einladen möchte.
Auf den ersten Blick scheinen die Dinge einfach: Wir wissen immer mehr – mehr, als uns lieb ist, mehr, als wir sagen (können oder wollen), mehr vor allem, als sich aus unserem Handeln rückschließen lässt. Anders und zugespitzt gesagt: Die Diskrepanz zwischen transparentem Denken und intransparentem Handeln wird täglich größer. So können wir wissen – ein Beispiel aus aktuellem Anlass –, dass Pandemien vorrangig durch Zoonosen, also Krankheiten, die von Menschen auf Wildtiere wie von Wildtieren auf Menschen übergehen, verursacht werden. Und nur zu gut können wir auch wissen, dass die Zunahme von Zoonosen auch damit zusammenhängt, dass immer mehr Flächen unter anderem für die landwirtschaftliche Produktion genutzt werden, somit die Lebensräume von Wildtieren zerstört und die Überschneidungen der Lebensräume von Tieren und Menschen zunehmen.
Statt nun vorrangig das Naheliegende zu tun, die Ursache (infra)strukturell anzugehen und die industrielle Landnutzung langfristig zu transformieren, Stichwort Landwende, priorisieren gewählte wie nicht gewählte Delegierte des Globalen Nordens weiterhin ein Vorgehen mit voneinander abhängigen und abhängig machenden Systemen, deren aller Praxis sich bei genauerer Betrachtung als elitär herausstellt. Um im Beispiel zu bleiben: Der solidarischen Verteilung des Corona-Impfstoffes unter allen Menschen weltweit (angesichts einer Pandemie wohl nicht die abwegigste Option) standen und stehen die meisten beteiligten Systeme – Wirtschaft, Politik, Logistik, Gesundheit, Forschung etc. – entgegen. Geschehen kann dies, weil es sich eine Minderheit in industrialisierten Gesellschaften auf Kosten der globalen Mehrheit erlaubt, sich vorzudrängeln, Privilegien zu beanspruchen und ihre Finanzkraft spielen zu lassen – mithin also bekanntes Herrschaftshandeln an den Tag legt.
Struktur und System
„Vor dem Hintergrund eines vorherrschenden kritischen Diskurses, der das Design als Akteur sozialer, politischer und ökologischer Veränderungen darstellt, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es nicht ausreicht, ,für‘ oder gar ,mit‘ dem anderen zu gestalten. Designende und Designforschende im Globalen Norden müssen auch erkennen, wie und warum sie ihre Gestaltungsakte aus den Positionen heraus ausführen, die sie einnehmen“, schreibt Mahmoud Keshavarz in seinem Beitrag „Violent Compassions: Humanitarian Design and the Politics of Borders“ (2020) (Gewalttätige Mitleidsbekundungen: Humanitäres Design und die Politik der Grenzen).
„Je nach Perspektive kann das Design also systemrelevant oder strukturrelevant sein.“
Das ist ein entscheidender Hinweis, denn Designende können auf zwei gegensätzliche Weisen agieren. Als Produktentwerfende wissen sie sehr genau, wie sie systemische Abhängigkeiten schaffen können – mit Nachfüllgeschäft, Spezialwerkzeug, Inkompatibilität und Obsoleszenz. Damit tragen sie zur Stärkung von ausschließlich an ihrer Selbsterhaltung interessierten Systemen bei. Als Prozessentwerfende wissen sie aber ebenso sehr genau, wie sie diese systemischen Abhängigkeiten verhindern können – mit Updatefähigkeit, Open Source, Partizipation, sowie Aufwertung (durch Ästhetik, Interaktion und Narration). Mit diesen Korrektur- und Modifikationsoptionen stärken sie die Variabilität von Strukturen.
Je nach Perspektive kann das Design also systemrelevant oder strukturrelevant sein. Auf der einen Seite vermag es Systeme zu optimieren und wird in dieser Lesart von vielen gern als Disziplin gesehen. Auf der anderen Seite ist das Design eine systemunabhängige, nicht an eine einzelne Disziplin gebundene Kompetenz (a priori undiszipliniert, siehe oben) und damit eine strukturelle Kategorie wie Beziehung, Moment, Nerven (siehe ebenfalls oben) oder Sprache.
Freiheit von Sicherheit entkoppeln
„Wo Wissen und Handeln sich getrennt haben, gibt es keinen Raum für Freiheit“, schreibt Hannah Arendt in ihrer 1963 erschienenen Analyse „Über die Revolution“. Faktisch haben wir in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Räume für Freiheit aufgegeben. Wir haben uns zwar mittlerweile von einem dichten Netz detaillierten Wissens umgarnen lassen und damit abgesichert, aber gleichzeitig sind wir in diesem Netz so verstrickt, dass wissen(schaft)sadäquates Handeln so viele Aspekte berücksichtigen muss, dass eine Differenzierung zwischen richtig und falsch nahezu unmöglich wird. Auf den zweiten Blick scheinen die Dinge nicht mehr ganz so einfach, sondern geradezu dilemmatisch. Auch hier hilft ein Blick auf den weltweit disparaten bis hilflosen Umgang mit der Corona-Pandemie.
Da wir uns aber ungern eingestehen wollen, uns freiwillig (und andere wider deren Willen) der Freiheit zu berauben, ignorieren wir gerne das Dilemma: Wir koppeln dann (strukturelle) Freiheit so eng an (systemische) Sicherheit, bis wir über deren grundsätzliche Differenz hinwegsehen und dann Sicherheit für die Basis von Freiheit halten. Dabei verdrängen wir, dass Freiheit der Gefahr mit Rücksicht, Umsicht und Vorsicht begegnet, Sicherheit hingegen nur die Bedrohung kennt, der lediglich mit dem Ausschließen (von Teilhabe), dem Beschließen (von Privilegien) und dem Wegschließen (von Gegenkonzepten und Oppositionellen) beizukommen ist.
Solidarität, kein Mitleid
Das Koppeln von Freiheit an Sicherheit bis zur Ununterscheidbarkeit ist kein Einzelfall. Auch andere strukturelle Kategorien koppeln wir gerne an systemische: Wachstum an Akkumulation, Nachhaltigkeit an Green New Deals, Arbeit an Lohnzahlung, Solidarität an Mitleid und vieles andere mehr.
Zurecht hat Boris Kochan in seinem DDC DESIGN DISKURS-Beitrag „Politisiert Euch!“ zur Solidarität aufgerufen. Als politische Kategorie formt Solidarität Interessengemeinschaften mit dem Ziel der Teilhabe und Freiheit für alle Menschen. Solidarität unterscheidet sich dabei grundlegend von Aktionen des Mitleids. Denn trotz gut gemeinter Absicht trägt von Mitleid motiviertes Handeln immer auch zur Verstetigung von Situationen der Unfreiheit und der Nicht-Teilhabe bei. Das wiederum kommt den Interessengruppen selbsterhaltender Systeme durchaus gelegen, denn so können sich deren Mitglieder noch weiter vordrängeln, noch mehr Privilegien beanspruchen und noch finanzstärker werden.
Hannah Arendt hat auch dieses in „Über die Revolution“ treffend analysiert: „… ohne Unglück gäbe es kein Mitleid, und Mitleid ist darum ebenso interessiert daran, daß es Unglückliche gibt, wie der Machthunger daran interessiert ist, daß Schwäche und Ohnmacht ihm in die Hände spielen.“
Design heißt, ans Ende zu denken, nicht vom Ende her
Wir sollten uns fragen und müssen uns fragen lassen, wie lange wir noch der Überzeugung anhängen wollen, mit systemischen Mitteln Ressourcen und Menschen ohne schwerwiegende Folgen meinen ausbeuten und Naturphänomene mittels Artefakten beherrschen, nachahmen und verbessern zu können. Denn trotz technisch herausragender Leistungen wie Mond- und Marslandung, Klonung oder KI ist das bisher weder der Fall, noch sind wir dem Ziel einer – für alle Menschen – besseren Welt damit entscheidend nähergekommen. Das Gegenteil ist der Fall, denn Wissenschaft rekurriert zwar auf das Leben, das Leben jedoch nicht auf Wissenschaft – auch das führt uns die kleine Struktur namens Corona derzeit schmerzhaft vor Augen.
„Ans Ende zu denken,
fokussiert auf das Denken; dabei bleibt das Ende potenziell, was uns die Freiheit gibt, es – bei neuen Erkenntnissen etwa – neu oder umzudenken.“
Dabei macht es meines Erachtens einen grundlegenden Unterschied, ob wir ans Ende denken oder vom Ende her. Wenn ich als Kind meine Eltern am Schluss der Geschichten gefragt habe, wie es denn nun weitergehe mit Jim Knopf, Tom Sawyer, Pipi Langstrumpf oder Pünktchen und Anton, sagten sie, das sei nicht das Ende, aber nun beginne der Teil für Erwachsene. Wenn auch anders als gedacht, haben meine Eltern recht behalten, denn nun stellen viele der mittlerweile selbst Erwachsenen die – durchaus berechtigte – Frage, ob ihnen da im Kindesalter nicht koloniales und ausgrenzendes Kulturgut allzu kritik- und kommentarlos, mindestens aber naiv dargereicht wurde, und fordern ein Umdenken.
Ans Ende zu denken, fokussiert auf das Denken; dabei bleibt das Ende potenziell, was uns die Freiheit gibt, es – bei neuen Erkenntnissen etwa – neu oder umzudenken. Designende übertragen das längst in ihre tägliche Praxis, nehmen sich die Freiheit, im Laufe eines Prozesses neu oder umzumodellieren. Sie nennen es Iteration. Vom Ende her zu denken, klingt zwar ähnlich, behauptet aber dagegen, das tatsächliche Ende zu kennen. Dieses Denken fokussiert auf das behauptete Ende, was Sicherheit suggeriert, mit all ihren oben genannten Folgeerscheinungen.
Mit ihren intellektuellen, empathischen und praktischen Skills können Designende über Disziplingrenzen hinweg sämtlichen Prozessen zur strukturellen Entfaltung verhelfen. Das mag manchen, deren Disziplin sich mitunter schon seit Jahrhunderten ausschließlich dem systemischen Fortschritt verschrieben hat, nicht behagen; dem vergleichsweise jungen Design aber, so paradox das erscheinen mag, beschert es glänzende Zukunftsaussichten.
In diesem Sinne würde ich den eingangs erwähnten Satz von Chris Bangle umkehren: Designende sind viel zu wichtig, um ihnen nur das Autodesign zu überlassen.
Gewöhnen wir uns an den Gedanken, sind wir so frei und kommen gemeinsam ins Handeln.