DESIGN DISKURS
Designforschung habe im deutschsprachigen Raum im internationalen Vergleich großen Nachholbedarf laut einer Studie des Institute for Design Research and Appliance (IfDRA), das beim Rat für Formgebung angesiedelt ist. Direktor Stephan Ott spricht mit Prof. Dr. Felix Kosok über die Ergebnisse und daraus abgeleiteten Verbesserungspotenziale von Designforschung in Deutschland.
Felix Kosok: Stephan, du bist Direktor des Institute for Design Research and Appliance (IfDRA), das beim Rat für Formgebung angesiedelt ist. Was macht ihr da genau?
Stephan Ott: Die grundsätzliche Idee hinter dem IfDRA ist, die Designforschung im deutschsprachigen Raum zu fördern, ihr mehr Sichtbarkeit und eine eigene Stimme zu geben und verschiedene Akteur*innen miteinander zu vernetzen. Aus unserer Sicht sprechen die verschiedenen Akteur*innen bisher noch viel zu selten miteinander. Dabei geht es uns nicht nur um den akademischen Bereich, sondern auch um die Designforschung in Unternehmen und in der Designpraxis.
Felix Kosok: Der Name „Design Research and Appliance“ deutet ja darauf hin, dass es nicht nur um die Forschung an sich geht, sondern auch um deren praktische Anwendung. Kann man das so sagen?
Stephan Ott: Genau. Es geht uns nicht nur um Grundlagenforschung im klassisch-wissenschaftlichen Sinne, sondern auch darum, wie die aus dieser Forschung erlangten Erkenntnisse angewendet werden können. Deshalb haben wir das Institut bewusst nicht an eine Hochschule angebunden, obwohl das sicherlich möglich gewesen wäre. Uns war es wichtig, ein breiteres Spektrum abzudecken und auch Unternehmen sowie andere Disziplinen einzubinden, die mit Designmethoden arbeiten – zum Beispiel in der Pädagogik. Die Anbindung an den Rat für Formgebung erschien uns deshalb sinnvoll, da dieser ebenfalls nicht nur auf einen spezifischen Designbereich fokussiert ist, sondern die Wirtschaft genauso adressiert wie Kultur und Wissenschaft.

Felix Kosok: Ja, gerade wenn es um einen Überblick über die Designforschung in den von dir beschriebenen Bereichen geht, erscheint mir eine solch übergeordnete Institution sinnhaft. Ihr habt ja kürzlich eine Studie zum Stand der Designforschung in Deutschland veröffentlicht. Hierfür habt ihr qualitative Interviews mit Expert*innen geführt und diese Erkenntnisse dann durch die quantitative Auswertung von Fragebögen bestätigen lassen. Bevor wir tiefer in diese einsteigen: Wo siehst du die größten Herausforderungen für die Designforschung in Deutschland?
Stephan Ott: Eine der zentralen Herausforderungen ist der stark akademisch geprägte Forschungsbegriff in Deutschland. Forschung wird, wie gesagt, in einer sehr langen Tradition – auf die wir natürlich auch stolz sein können – oft nur im Sinne von klassischer Grundlagenforschung verstanden – mit klarer Fragestellung, einer identifizierten, sehr engen Forschungslücke und stringenter Methodik. Forschung ist auch immer noch sehr stark mit dem Bild der Naturwissenschaften verbunden. Designforschung funktioniert aber häufig anders. Sie ist praxisorientiert, iterativ und vor allem ergebnisoffen, was hierzulande nicht immer als „echte“ Forschung anerkannt wird. Das spielt dann auch eine Rolle bei der Vergabe von Geldern für Forschungsvorhaben, bei denen in Deutschland das Design immer noch viel zu wenig berücksichtigt wird. Es geht uns auch gar nicht darum, die unterschiedlichen Arten der Forschung gegeneinander auszuspielen. Uns geht es vielmehr um eine Erweiterung des Forschungsbegriffes.
„Wir wollten mit unserer Studie einen Überblick schaffen, wo Designforschung in Deutschland tatsächlich überall stattfindet und welche Strukturen sie prägen.“
Ein weiteres Problem ist die mangelnde Vernetzung all der Felder, in denen Designforschung stattfindet und in denen Methoden des Designs zum Forschen verwendet werden. User Research in Unternehmen wird beispielsweise oft nicht als Teil der Designforschung begriffen, obwohl sie viele der Methoden und Prinzipien der Designforschung teilt. Wir wollten mit unserer Studie einen Überblick schaffen, wo in diesem Sinne Designforschung in Deutschland tatsächlich überall stattfindet und welche Strukturen sie prägen.

Felix Kosok: Was waren denn eure wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Studie?
Stephan Ott: Die Studie zeigt, dass die Designforschung im deutschsprachigen Raum im internationalen Vergleich großen Nachholbedarf hat. Insbesondere, wenn es um ihre Anerkennung als eigenständige Forschung mit eigenen Methoden geht. In Großbritannien gibt es seit den 1960er Jahren die Design Research Society. In Schweden und den skandinavischen Ländern ist die Designforschung viel stärker etabliert. Designer*innen promovieren dort regelmäßig auch in Fächern, die nicht zur Kunstgeschichte oder Designgeschichte zählen. Hierzulande ist das immer noch keine Selbstverständlichkeit und die Promotionsmöglichkeit im Design gibt es auch noch nicht sehr lange, wie du ja aus eigener Erfahrung weißt.
Ein weiteres Ergebnis war, dass Designmethoden häufig auch in anderen Disziplinen genutzt werden, ohne dass dies explizit im Kontext der Designforschung verortet wird. Ein Beispiel ist das Design Thinking, das in Unternehmen, aber auch in anderen Kontexten ohne die Einbindung von Designer*innen verwendet wird. Es werden also Methoden aus der Designforschung adaptiert, ohne dass dies klar benannt wird oder die entsprechenden Expert*innen dazu geholt werden. Beispielsweise gibt es auch in der Pädagogik oder der Archäologie Ansätze, die auf Designmethoden zurückgreifen. Hier fehlt es oft an einer bewussten Einordnung und Anerkennung dieser Arbeit als Designforschung.

Felix Kosok: Wenn ich deinen Beschreibungen zuhöre, kommt mir der Gedanke, dass kreative Designforschung Forschung generell zugänglicher macht und aus dem Elfenbeinturm raus holt. Könnte man sagen, dass Designforschung den Forschungsbegriff demokratisiert?
Stephan Ott: Absolut. Designforschung verbindet kreative Freiheiten mit einer lösungsorientierten Praxis. Sie ist ergebnisoffen, aber dennoch praxisbezogen. Diese Mischung macht sie für interdisziplinäre Projekte so wertvoll. Und dass Methoden aus der Designforschung tatsächlich in so vielen unterschiedlichen Feldern bereits angewendet werden, war mir vor der Studie ehrlicherweise auch nicht klar.
Unsere Studie zeigt außerdem, dass Designforschung oft Soft Skills wie Empathie und Vermittlungskompetenz erfordert – Fähigkeiten, die in traditionellen Forschungssettings oft unterschätzt werden. Diese Soft Skills könnten sich in Zukunft als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Innovationsprozesse erweisen. Hinzukommt, dass Designforschung eine viel höhere Fehlerkultur hat. Diese Offenheit für Fehler und die Chance, aus ihnen zu lernen, ist auch etwas, von dem andere Bereiche profitieren können.
„Ein weiteres Ergebnis war, dass Designmethoden häufig auch in anderen Disziplinen genutzt werden, ohne dass dies explizit im Kontext der Designforschung verortet wird.“
Felix Kosok: Ich finde, das ist ein wirklich spannender Punkt, der mir gerade nochmal klar geworden ist: Designforschung ist ergebnisoffen, aber dennoch lösungsorientiert. Sie hat einen klaren praktischen Bezug, lässt aber gleichzeitig kreativen Freiraum und legt nicht im Vorfeld fest, welches Ergebnis letztlich dabei herauskommen muss. Könnte man das als eine große Chance betrachten? Vor allem im Hinblick darauf, dass hier ein enormes interdisziplinäres Potenzial steckt? Die Methoden der Designforschung – insbesondere die kreativen Ansätze – könnten doch in vielen anderen Bereichen angewandt werden, wo das bisher vielleicht noch gar nicht so bewusst wahrgenommen wird. Es wäre spannend zu sehen, wie verschiedene Felder davon profitieren könnten, insbesondere, wenn Designerinnen und Designer aktiv in solche Prozesse eingebunden werden.
Stephan Ott: Ja, auf jeden Fall. Das wurde auch in den qualitativen Interviews sehr deutlich. Es gibt inzwischen einige Menschen, die explizit als Designforscher*innen arbeiten. Allerdings stoßen sie oft auf große Skepsis. Am Anfang eines Projekts wird ihre Rolle häufig hinterfragt – ähnlich wie es Designerinnen und Designern generell ergeht. Besonders in spezialisierten Bereichen stellt sich oft die Frage: „Was macht das Design überhaupt hier?“ Doch am Ende des Projekts erkennen viele Beteiligte, dass der Beitrag der Designerin oder des Designers unverzichtbar war, und äußern dann: „Das müssen wir jetzt immer so machen.“

Felix Kosok: Gibt es ein Beispiel aus der Praxis, das zeigt, wie Designforschung in interdisziplinären Kontexten wirkt?
Stephan Ott: Ja, eines der eindrücklichsten Beispiele für mich stammt aus der Medizintechnik. Dort koordinierte eine Designforscherin ein Projektteam aus Ingenieur*innen, Ärzt*innen und aus Vertreter*innen des Unternehmens. Sie stellte einfache Fragen wie: „Haben Sie verstanden, was Ihr Gegenüber gerade gesagt hat?“ Dabei wurde schnell klar, dass alle Beteiligten in ihrer eigenen Fachsprache redeten und einander eben nicht verstanden. Die Designforscherin übersetzte zwischen den Disziplinen und schuf so die Grundlage für einen erfolgreichen Projektverlauf.
Ein anderes Beispiel kommt aus der Archäologie. Dort half ein Animator, die Bewegungsabläufe eines fossilen Tieres zu rekonstruieren. Die Forschenden konnten sich keinen Reim auf die Bewegungsabläufe des Fossils machen, es passte hinten und vorne nicht. Aufgrund seiner Erfahrung mit Bewegungsabläufen in der Animation von Charakteren kam der Animator darauf, dass der Fehler im Fossil selbst liegen musste. Durch seine Vorstellungskraft und Animationstechniken konnte der Animator zeigen, dass die Knochen des Fossils durch Druck verformt worden waren. Um die Bewegung simulieren zu können, mussten die Knochen verändert werden – eine Erkenntnis, die das Archäolog*innenteam allein nicht gewonnen hätte.

Felix Kosok: Du sprichst auch im Vorwort der Studie davon, dass sich die Designforschung nur langsam von der klassischen akademischen Forschung emanzipiert. Was meinst du damit?
Stephan Ott: Es geht um zweierlei: Zum einen geht es um die Anerkennung von Designforschung durch die klassische akademische Forschung. Dabei soll es keineswegs darum gehen, diese zu ignorieren oder zu ersetzen, sondern vielmehr darum, zusammenzuarbeiten. Denn in Forschungsprozessen passiert oft Ähnliches wie in rein praktischen Prozessen: Transdisziplinäre Zusammenarbeit kann enorm bereichernd sein.
Diese Perspektive eröffnet neue Möglichkeiten: Designforschung kann künftig noch stärker dazu beitragen, innovative und praxisnahe Ansätze in unterschiedlichen Bereichen zu entwickeln. Es ist ein großer Schritt, diese Methoden und ihre Wirkung über die Grenzen des Designs hinaus anzuerkennen und aktiv zu nutzen.
„Designforschung kann künftig noch stärker dazu beitragen, innovative und praxisnahe Ansätze in unterschiedlichen Bereichen zu entwickeln. “
Andererseits geht es aber auch darum, dass Designer*innen mehr Selbstbewusstsein entwickeln sollten, um ihre Methoden und Ergebnisse zu vertreten. Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene ist es wichtig, dass sich die Designforschung emanzipiert – allerdings nicht im Sinne von „Lasst uns in Ruhe“. Vielmehr sollte es darum gehen, die eigene Qualität und die besonderen Perspektiven, die die Designforschung bietet, aktiv in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen.
Designforschung kann mit ihren Methoden und Ansätzen durchaus Aspekte bereichern, die auch für andere Forschungsbereiche relevant und wertvoll sind. Es geht darum, selbstbewusst aufzutreten und zu zeigen, dass Designforschung innovative und zukunftsweisende Beiträge leisten kann.
Felix Kosok: Wie unabhängig kann Designforschung sein, wenn sie so eng mit der Praxis verzahnt ist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der deutschen Vorstellung von akademischer Forschung eine gewisse Autonomie als zentral gilt?
Stephan Ott: Die Unabhängigkeit von Designforschung hängt stark von den Menschen ab, die sie betreiben, und auch davon, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Wenn man sie rein aus der Unternehmensperspektive sieht, steht oft das Ziel im Vordergrund, ein neues Produkt oder einen neuen Service zu entwickeln. Das muss dort am Ende eines Projekts stehen. Aber auch Unternehmen haben zunehmend erkannt, dass nicht immer innerhalb kurzer Zeit ein valides Produkt entstehen muss. Es gibt mittlerweile durchaus Raum für offene Prozesse.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, was mit den Ergebnissen der akademischen Forschung passiert. Eine Promotion mit 400 Seiten landet oft in einem Regal, ohne dass ihre Erkenntnisse in die Praxis gelangen. Hier braucht es eine Annäherung, einen Mittelweg. Designforschung sollte theoriebasiert, aber gleichzeitig praxisorientiert sein. Das heißt, nicht nur spekulativ oder zufällig, sondern auch fundiert und mit einem Fokus auf Anwendungen, die uns wirklich weiterbringen.

Felix Kosok: Wie sieht die Zukunft der Designforschung aus? Was plant das IfDRA als Nächstes?
Stephan Ott: Die Internationalisierung der Designforschung halte ich für ein wichtiges Ziel, insbesondere für den deutschsprachigen Raum. Die aktuelle Studie hat erfreulicherweise großes Interesse geweckt, was mich sehr freut. Sie wurde sowohl von Hochschulen als auch von Unternehmen heruntergeladen, was zeigt, dass sie einen breiten Anklang findet. Für die Zukunft planen wir eine Konkretisierung in der Forschung. Mein Ziel für eine Folgestudie wäre es, den konkreten Impact von Designforschung nachzuweisen – beispielsweise anhand messbarer Zahlen, die belegen, wie Designforschungsprozesse Produktentwicklungen oder Erkenntnisse in unterschiedlichen Bereichen qualifizieren oder erweitern.
Das wäre ein interessanter nächster Schritt, den wir gerne im Jahr 2025 angehen würden. Diese Folgestudie würde möglicherweise etwas kleiner ausfallen, aber dafür quantitativ weiterentwickelt, um das gestiegene Interesse und das zunehmende Bewusstsein für dieses Feld aufzugreifen und zu vertiefen. Wenn wir das erreichen würden, wäre ich mehr als zufrieden.
Felix Kosok: Vielen Dank, Stephan, für das spannende Gespräch und die Einblicke in die Arbeit des IfDRA!
Stephan Ott: Danke dir, Felix. Es hat mir großen Spaß gemacht.