DESIGN DISKURS
In einem Gespräch mit Carlo Ratti, dem Kurator der 19. Architektur Biennale in Venedig, erkundet Poonam Choudhry (DDC) seine Vision einer neuen Architektur – einer Ära, in der natürliche und künstliche Intelligenz miteinander verschmelzen, um Städte zu schaffen, die sich anpassen, weiterentwickeln und auf die Klimakrise reagieren.
Poonam Choudhry: Was hat Sie dazu bewogen, Architekt zu werden?
Carlo Ratti: Ich war schon immer von Herbert Simons Definition von Design fasziniert: „Die Naturwissenschaften beschäftigen sich damit, wie die Dinge sind..... Gestaltung hingegen damit, wie die Dinge sein sollten.“ Wann immer ich eine Situation sehe – sei es in der Stadt oder im sozialen Bereich –, denke ich instinktiv darüber nach, wie sie verändert und hoffentlich verbessert werden könnte. Ich nehme an, das hat mich zu Design und Architektur geführt.
Poonam Choudhry: Mir gefällt Ihre Einstellung zum interdisziplinären Arbeiten in den Bereichen Design, Architektur und Stadtplanung. Sie ist immer noch nicht sehr populär. Mit welchen Argumenten und Ergebnissen können Sie diese Art des Arbeitens in Architekturbüros empfehlen?
Carlo Ratti: Die Probleme der realen Welt sind komplex – und werden immer komplexer, da die Architektur heute mit Ökosystemen, Technologie und Gesellschaft interagieren muss. Herausforderungen wie der Klimawandel lassen sich nicht in saubere professionelle Kategorien einordnen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mag chaotisch sein, aber sie ist der Ort, an dem Innovation stattfindet. Denken Sie nur daran, wie sich die Architektur vom Beaux-Arts-Modell im 20. Jahrhundert bis heute entwickelt hat. Das Fachgebiet durchläuft heute einen weiteren großen Wandel, und um relevant zu bleiben, müssen wir uns diese Veränderung zu eigen machen.
Poonam Choudhry: Das MIT Senseable City Lab umfasst eine Vielzahl von Projekten, Publikationen und Kooperationen. Können Sie zusammenfassen, was Sie damit erreichen wollen?
Carlo Ratti: Wir wollen Städte als Ökosysteme verstehen. Als wir das Senseable City Lab am MIT ins Leben riefen, war es unser Ziel zu erforschen, wie digitale Werkzeuge – Sensoren, Smartphones, Netzwerke – Städte lesbarer machen und auf die Menschen eingehen können. Unser Ziel war nie nur die Optimierung, sondern die Humanisierung: das Unsichtbare sichtbar zu machen, damit wir intelligenter handeln können.
„Kollektive Intelligenz entsteht, wenn natürliche, künstliche und menschliche Intelligenz zusammenwirken.“
Carlo Ratti, Kurator der 19. Architektur Biennale Venedig
Heute hat sich dieser Auftrag erweitert. Städte sind anpassungsfähige Systeme, und wir sollten sie wie Wälder betrachten – dynamisch und lebendig. „Favelas 4D“ zum Beispiel, eines der Projekte der Architektur Biennale 2025, nutzt LiDAR und Datenanalyse, um die räumliche Logik informeller Siedlungen in Brasilien aufzudecken. „Re-Leaf“, ein weiteres Projekt, nutzt KI, um Stadtbäume weltweit zu kartieren und zu klassifizieren und ihre Auswirkungen auf kühlere Städte abzuschätzen.
Poonam Choudhry: Sie betonen, dass die Architektur nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung im Kampf gegen den Klimawandel ist. Wie kann das konkret aussehen?
Carlo Ratti: Die gebaute Umwelt ist für fast 40 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Das ist eine große Verantwortung – aber auch eine Chance. Wir können für die Demontage entwerfen, Materialien wiederverwenden und mit der Natur zusammenarbeiten, anstatt uns ihr zu widersetzen. Und ebenso wichtig ist es, dass wir uns an ein Klima anpassen, das sich bereits verändert hat. Venedig ist ein historisches Beispiel für Anpassung. In jüngerer Zeit setzt das MOSE-System – bewegliche Dämme zum Schutz der Stadt vor steigenden Fluten – diese Tradition fort.
Poonam Choudhry: Welche Rolle spielt das natürliche Wissen im Vergleich zum technischen Wissen? Und wie definieren Sie kollektives Wissen in diesem Zusammenhang?
Carlo Ratti: Wir feiern die künstliche Intelligenz oft zu sehr, aber die natürliche Intelligenz – die Art und Weise, wie sich Ökosysteme entwickeln, wie sich Flüsse anpassen, wie sich Bakterien selbst organisieren – ist oft viel raffinierter. Kollektive Intelligenz entsteht, wenn natürliche, künstliche und menschliche Intelligenz zusammenwirken. Sie ist nicht hierarchisch – sie ist ein Netzwerk. Und genau das ist der Ausgangspunkt für neue Erkenntnisse.
„Grounded Growth“ von Anthony Acciavatti deckt die verborgene Geschichte einer der größten Süßwasserreserven der Welt auf: die Grundwasserleiter (Bild rechts). Bild © Poonam Choudhry
Poonam Choudhry: Die letzte Biennale war stark von postkolonialen und künstlerischen Themen geprägt. Wie sehen Sie die Entwicklung des Inhalts Ihrer Ausgabe?
Carlo Ratti: Diese Gespräche sind nach wie vor wichtig. Aber jede Biennale muss eine zentrale Frage stellen. Dieses Jahr konzentrieren wir uns auf folgende Frage: Wie prägt Intelligenz – über Arten, Systeme und Disziplinen hinweg – die Architektur in einem Zeitalter der Anpassung?
Poonam Choudhry: Wie sieht für Sie die Stadt der Zukunft zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen aus?
Carlo Ratti: Eine Stadt, in der man nicht mehr sagen kann, wo das eine endet und das andere beginnt.
Poonam Choudhry: Die Klimakrise verlangt nach schnellen und effektiven Lösungen. Wie kann eine Ausstellung wie die Biennale dazu beitragen, über symbolische Politik hinauszugehen?
Carlo Ratti: Indem sie als Testumgebung dient. Wir haben die Teilnehmer aufgefordert, Prototypen zu entwickeln, Risiken einzugehen und zu experimentieren. Wir haben auch den kuratorischen Prozess selbst geöffnet, mit über 800 Stimmen, von denen viele über einen offenen Aufruf ausgewählt wurden. Es ist ein bisschen wie in der Evolution: Versuch und Irrtum, geleitet von ständigem Feedback.
Dies hilft uns auch, die Rolle der Biennale zu überdenken. Als sie 1895 ins Leben gerufen wurde, war sie eine Bühne, auf der das Beste von dem präsentiert wurde, was bereits bekannt war – teils Weltausstellung, teils professionelles Schaufenster. Aber in einer Welt, in der Instagram eine Gebäudeeinweihung in Echtzeit streamen kann, wirkt dieses Modell veraltet. Heute brauchen wir eine Plattform, die neues Wissen schafft und nicht nur bestehende Arbeiten zeigt.
„Wir konzentrieren uns auf Folgendes: Wie prägt die Intelligenz – über Arten, Systeme und Disziplinen hinweg – die Architektur in einem Zeitalter der Anpassung?"
Carlo Ratti, Kurator der 19. Architektur Biennale Venedig
Poonam Choudhry: Inwieweit beeinflusst Ihr Hintergrund als Architekt, Ingenieur und Forscher Ihren kuratorischen Ansatz?
Carlo Ratti: Ich habe schon immer seltsame Tiere bewundert – und ich nehme an, ich bin einer von ihnen. Manche Kollegen sehen mich als Wissenschaftler und sind überrascht, dass ich nebenbei als Designer arbeite, oder umgekehrt. Aber ich schätze, dass dieser gemischte Hintergrund mir geholfen hat, über Skalen und Disziplinen hinweg zu denken. Vor allem aber habe ich dadurch den Wert der Strenge kennen gelernt – etwas, das in der Vergangenheit nicht immer das Markenzeichen der Architektur war.
Poonam Choudhry: Nach der Eröffnung der Biennale: Gab es einen bestimmten Pavillon oder eine Intervention, die Sie selbst als Kurator überrascht hat?
Carlo Ratti: Ich war beeindruckt, wie die nationalen Pavillons das Thema interpretiert haben. Es war erst das zweite Mal, dass versucht wurde, die nationalen Beiträge zu harmonisieren – der erste war Rem Koolhaas im Jahr 2014. So erforschte Kanada die Ko-Evolution zwischen natürlichen und künstlichen Systemen anhand von Bakterien. Das Vereinigte Königreich machte sich die Intelligenz der Reparatur zu eigen. Usbekistan hat eine Solaranlage aus der Sowjetzeit mit echter Eleganz neu gestaltet. Und viele andere. Was mich am meisten beeindruckte, war, wie jedes Land seine eigene, einzigartige Antwort fand und doch gemeinsam einen natürlichen Chor bildete.
Die Ausstellung „Unraveling: New Spaces" im serbischen Pavillon baut auf der filigranen Kunstfertigkeit des Strickens auf (Bild rechts). Bild © Poonam Choudhry
Poonam Choudhry: Gab es irgendetwas, das Sie bei dieser Biennale absichtlich weggelassen haben, um eine Aussage zu treffen?
Carlo Ratti: Ja. Form um der Form willen.
Poonam Choudhry: Was haben Sie während dieser kuratorischen Reise gelernt, das Ihre eigene Sichtweise oder Praxis verändert hat?
Carlo Ratti: Das Kuratieren der Biennale hat meinen Glauben an kollektive Intelligenz gestärkt. Es ist ein Chor, nicht ein Solo. Manchmal ist es das Stärkste, was man tun kann, Raum für andere zu schaffen, damit sie ihre Ideen einbringen können.