Bild © Agnese Bedini

DESIGN DISKURS

In einem Gespräch mit Carlo Ratti, dem Kurator der 19. Architektur Bien­nale in Venedig, erkundet Poonam Choudhry (DDC) seine Vision einer neuen Architek­tur – einer Ära, in der natür­liche und künst­liche Intelli­genz mitein­ander ver­schmelzen, um Städte zu schaffen, die sich an­passen, weiter­ent­wickeln und auf die Klima­krise reagieren.

Veröffenticht am 04.08.2025
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Poonam Choudhry: Was hat Sie dazu bewogen, Architekt zu werden?

Carlo Ratti: Ich war schon immer von Herbert Simons Definition von Design fasziniert: „Die Natur­wissen­schaften beschäftigen sich damit, wie die Dinge sind..... Gestalt­ung hin­gegen damit, wie die Dinge sein sollten.“ Wann immer ich eine Situation sehe – sei es in der Stadt oder im sozialen Bereich –, denke ich instink­tiv darüber nach, wie sie ver­ändert und hoffent­lich ver­bes­sert werden könnte. Ich nehme an, das hat mich zu Design und Archi­tektur geführt.

Der italienische Architekt Carlo Ratti kuratiert die 19. Architektur Biennale in Venedig. Bild © CRA Carlo Ratti Associati

Poonam Choudhry: Mir gefällt Ihre Einstell­ung zum inter­diszi­plinären Arbeiten in den Be­rei­chen Design, Architektur und Stadt­planung. Sie ist immer noch nicht sehr populär. Mit welchen Argumen­ten und Ergeb­nissen können Sie diese Art des Arbeitens in Archi­tektur­büros empfehlen?

Carlo Ratti: Die Probleme der realen Welt sind komplex – und werden immer kom­plexer, da die Archi­tektur heute mit Öko­systemen, Techno­logie und Gesell­schaft inter­agieren muss. Heraus­forder­ungen wie der Klima­wandel lassen sich nicht in saubere profes­sionelle Kate­gorien ein­ordnen. Die inter­diszi­plinäre Zusam­men­arbeit mag chaotisch sein, aber sie ist der Ort, an dem Inno­vation statt­findet. Denken Sie nur daran, wie sich die Architek­tur vom Beaux-Arts-Modell im 20. Jahr­hundert bis heute ent­wickelt hat. Das Fach­gebiet durch­läuft heute einen weiteren großen Wandel, und um relevant zu bleiben, müssen wir uns diese Verän­derung zu eigen machen.

Die schwimmende Plattform „AquaPraça“ erforscht eine neue Symbiose zwischen Architektur und Umwelt und wird im Arsenale präsentiert. Bild © Agnese Bedini

Poonam Choudhry: Das MIT Senseable City Lab umfasst eine Vielzahl von Projekten, Publi­kationen und Ko­opera­tionen. Können Sie zusammen­fassen, was Sie damit erreichen wollen?

Carlo Ratti: Wir wollen Städte als Öko­systeme verstehen. Als wir das Senseable City Lab am MIT ins Leben riefen, war es unser Ziel zu erforschen, wie digitale Werk­zeuge – Sensoren, Smart­phones, Netz­werke – Städte lesbarer machen und auf die Menschen ein­gehen können. Unser Ziel war nie nur die Optimierung, sondern die Humani­sierung: das Unsicht­bare sichtbar zu machen, damit wir intelli­genter handeln können.

„Kollektive Intelli­genz entsteht, wenn natürliche, künst­liche und mensch­liche Intelli­genz zusammenwirken.“

Carlo Ratti, Kurator der 19. Architektur Biennale Venedig

Heute hat sich dieser Auf­trag erweitert. Städte sind anpassungs­fähige Systeme, und wir sollten sie wie Wälder betrachten – dynamisch und lebendig. „Favelas 4D“ zum Beispiel, eines der Projekte der Architek­tur Biennale 2025, nutzt LiDAR und Daten­analyse, um die räum­liche Logik informeller Sied­lungen in Brasilien aufzu­decken. „Re-Leaf“, ein weiteres Projekt, nutzt KI, um Stadt­bäume welt­weit zu kartieren und zu klassi­fi­zieren und ihre Aus­wirkun­gen auf kühlere Städte abzuschätzen.
 
Poonam Choudhry: Sie betonen, dass die Architek­tur nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung im Kampf gegen den Klima­wandel ist. Wie kann das konkret aussehen?

Carlo Ratti: Die gebaute Umwelt ist für fast 40 Prozent der weltweiten Emis­sionen verant­wort­lich. Das ist eine große Verant­wortung – aber auch eine Chance. Wir können für die Demon­tage ent­werfen, Materi­alien wieder­verwen­den und mit der Natur zusam­men­arbeiten, anstatt uns ihr zu wider­setzen. Und ebenso wichtig ist es, dass wir uns an ein Klima an­passen, das sich bereits verändert hat. Venedig ist ein historisches Beispiel für Anpassung. In jüngerer Zeit setzt das MOSE-System – beweg­liche Dämme zum Schutz der Stadt vor steigenden Fluten – diese Tradi­ti­on fort.
 
Poonam Choudhry: Welche Rolle spielt das natürliche Wissen im Vergleich zum technischen Wissen? Und wie definieren Sie kollek­tives Wissen in diesem Zusammenhang?

Carlo Ratti: Wir feiern die künstliche Intelligenz oft zu sehr, aber die natürliche Intelli­genz – die Art und Weise, wie sich Öko­systeme ent­wickeln, wie sich Flüsse an­passen, wie sich Bakterien selbst organi­sieren – ist oft viel raffinierter. Kollektive Intelli­genz entsteht, wenn natür­liche, künst­liche und mensch­liche Intelli­genz zusam­men­wirken. Sie ist nicht hierar­chisch – sie ist ein Netz­werk. Und genau das ist der Ausgangs­punkt für neue Erkenntnisse.

Die „Elefantenkapelle“ von Boonserm Premthada, die im Arsenale ausgestellt ist, stellt die Frage, wie wir eine dauerhafte und robuste Ziegelstruktur aus Biomaterialien – insbesondere Elefantendung – bauen können (Bild links). Bild © Martin Bargiel
„Grounded Growth“ von Anthony Acciavatti deckt die verborgene Geschichte einer der größten Süßwasserreserven der Welt auf: die Grundwasserleiter (Bild rechts). Bild © Poonam Choudhry

Poonam Choudhry: Die letzte Biennale war stark von post­kolonialen und künstlerischen Themen geprägt. Wie sehen Sie die Ent­wicklung des Inhalts Ihrer Ausgabe?
 
Carlo Ratti: Diese Gespräche sind nach wie vor wichtig. Aber jede Biennale muss eine zentrale Frage stellen. Dieses Jahr konzen­trieren wir uns auf folgende Frage: Wie prägt Intelli­genz – über Arten, Systeme und Diszi­plinen hinweg – die Archi­tektur in einem Zeitalter der An­passung?
 
Poonam Choudhry: Wie sieht für Sie die Stadt der Zukunft zwischen dem Natür­lichen und dem Künst­lichen aus?

Carlo Ratti: Eine Stadt, in der man nicht mehr sagen kann, wo das eine endet und das andere beginnt. 

Carlo Ratto Associati präsentiert auf der Biennale Architettura modulare Garten-Arbeitsraum-Pods. Bild © Antonio Guiotto

Poonam Choudhry: Die Klimakrise verlangt nach schnellen und effek­tiven Lösungen. Wie kann eine Aus­stellung wie die Biennale dazu beitragen, über sym­bolische Politik hinaus­zugehen?

Carlo Ratti: Indem sie als Test­umgebung dient. Wir haben die Teil­nehmer aufge­fordert, Proto­typen zu ent­wickeln, Risiken einzu­gehen und zu experimen­tieren. Wir haben auch den kura­torischen Pro­zess selbst geöffnet, mit über 800 Stimmen, von denen viele über einen offenen Aufruf aus­ge­wählt wurden. Es ist ein bisschen wie in der Evo­lution: Versuch und Irrtum, ge­lei­tet von ständigem Feedback.
 
Dies hilft uns auch, die Rolle der Biennale zu über­denken. Als sie 1895 ins Leben ge­rufen wurde, war sie eine Bühne, auf der das Beste von dem präsen­tiert wur­de, was bereits bekannt war – teils Welt­aus­stellung, teils profes­sio­nelles Schau­fenster. Aber in einer Welt, in der Insta­gram eine Gebäude­ein­weih­ung in Echt­zeit streamen kann, wirkt dieses Modell ver­altet. Heute brauchen wir eine Platt­form, die neues Wissen schafft und nicht nur be­stehende Arbeiten zeigt.

„Wir konzentrieren uns auf Folgendes: Wie prägt die Intelligenz – über Arten, Systeme und Diszi­plinen hinweg – die Archi­tektur in einem Zeit­alter der Anpassung?"

Carlo Ratti, Kurator der 19. Architektur Biennale Venedig

Poonam Choudhry: Inwieweit beein­flusst Ihr Hinter­grund als Archi­tekt, Ingenieur und Forscher Ihren kuratorischen Ansatz?

Carlo Ratti: Ich habe schon immer seltsame Tiere bewun­dert – und ich nehme an, ich bin einer von ihnen. Manche Kollegen sehen mich als Wissen­schaft­ler und sind über­rascht, dass ich neben­­bei als Designer arbeite, oder umge­kehrt. Aber ich schätze, dass dieser gemischte Hinter­grund mir ge­holfen hat, über Skalen und Diszi­plinen hin­weg zu denken. Vor allem aber habe ich dadurch den Wert der Strenge kennen gelernt – etwas, das in der Ver­gangen­heit nicht immer das Marken­zeichen der Archi­tektur war.
 
Poonam Choudhry: Nach der Eröff­nung der Biennale: Gab es einen bestimmten Pavillon oder eine Inter­vention, die Sie selbst als Kurator überrascht hat?
 
Carlo Ratti: Ich war beein­druckt, wie die natio­nalen Pavillons das Thema inter­pretiert haben. Es war erst das zweite Mal, dass ver­sucht wurde, die natio­nalen Beiträge zu harmoni­sieren – der erste war Rem Kool­haas im Jahr 2014. So erforschte Kanada die Ko-Evolution zwischen natür­lichen und künst­lichen Sys­temen anhand von Bakterien. Das Vereinigte König­reich machte sich die Intelli­genz der Reparatur zu eigen. Usbekis­tan hat eine Solar­anlage aus der Sowjet­zeit mit echter Eleganz neu gestaltet. Und viele andere. Was mich am meisten beein­druckte, war, wie jedes Land seine eigene, einzigartige Ant­wort fand und doch gemein­sam einen natürlichen Chor bildete.

 

Poonam Choudhry bei Norman Fosters „Gateway to Venice's Waterway“, einer Highlight-Installation der 19. Architektur Biennale Venedig (Bild links). Bild © Martin Bargiel
Die Ausstellung „Unraveling: New Spaces" im serbischen Pavillon baut auf der filigranen Kunstfertigkeit des Strickens auf (Bild rechts). Bild © Poonam Choudhry

Poonam Choudhry: Gab es irgend­etwas, das Sie bei dieser Biennale ab­sicht­lich weg­gelas­sen haben, um eine Aus­­sage zu treffen?

Carlo Ratti: Ja. Form um der Form willen.
 
Poonam Choudhry: Was haben Sie während dieser kuratorischen Reise gelernt, das Ihre eigene Sicht­­weise oder Praxis verändert hat?
 
Carlo Ratti: Das Kuratieren der Bien­nale hat meinen Glauben an kollek­tive Intelli­genz ge­stärkt. Es ist ein Chor, nicht ein Solo. Manch­mal ist es das Stärkste, was man tun kann, Raum für an­de­re zu schaffen, damit sie ihre Ideen ein­bringen können.

Carlo Ratti

ist ein ita­lie­ni­scher Ar­chi­tekt, In­ge­nieur und Pro­fes­sor am Mas­sa­chu­setts In­sti­tu­te of Tech­no­lo­gy (MIT). Rat­ti ist Di­rek­tor des Sen­se­able Ci­ty Lab und be­kannt für sei­ne Ar­beit an tech­no­lo­gie­ge­steu­er­ten ur­ba­nen Lö­sun­gen. Rat­ti hat glo­ba­le Pro­jek­te ge­lei­tet, dar­un­ter in­tel­li­gen­te Städ­te und in­ter­ak­ti­ve öf­fent­li­che Räu­me. Sei­ne For­schung ver­bin­det Ar­chi­tek­tur mit di­gi­ta­len Tech­no­lo­gi­en, um nach­hal­ti­ge und ef­fi­zi­en­te Le­bens­räu­me zu schaf­fen. Er ist der Ku­ra­tor der 19. Ar­chi­tek­tur Bi­en­na­le in Ve­ne­dig mit dem The­ma „In­tel­li­gens. Na­tu­ral. Ar­ti­fi­ci­al. Collec­tive.“