Studierenden-Projekt „Parteras“. Bild © Sofia Macarena Lyzun, Sofia Nabhen, Ceresole Melisa

DESIGN DISKURS

In Ar­gen­ti­ni­en ist der Pro­test tief ver­wur­zelt. Prof. Dr. Gri­sel­da Fles­ler, Pro­fes­so­rin für De­sign und Gen­der Stu­dies an der Uni­ver­si­tät von Bue­nos Ai­res, er­klärt im Ge­spräch mit Prof. Dr. Fe­lix Ko­sok, wel­che Rol­le vi­su­el­le Ge­stal­tung in den fe­mi­nis­ti­schen Be­we­gun­gen des Lan­des spielt und wes­halb Zu­hö­ren ei­ne Stra­te­gie zur Trans­for­ma­ti­on sein kann.

Veröffentlicht am 03.05.2025
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Felix Kosok: Lie­be Gri­sel­da, du bist Pro­fes­so­rin für Gen­der und De­sign an der Fa­kul­tät für Ar­chi­tek­tur, De­sign und Stadt­pla­nung der Uni­ver­si­tät Bue­nos Ai­res – ei­ne der we­ni­gen Pro­fes­su­ren mit die­ser Be­zeich­nung welt­weit. Was für ei­ne tol­le Auf­ga­be! Er­zähl uns et­was dar­über.

Griselda Flesler: Ja, es ist ei­ne sehr her­aus­for­dern­de Auf­ga­be. Als wir vor neun Jah­ren an­fin­gen, stan­den wir vor der Her­aus­for­de­rung, ei­ne neue Spra­che, ei­nen an­de­ren theo­re­ti­schen Rah­men in ei­ne Fa­kul­tät ein­zu­füh­ren, die ih­re Grund­la­gen auf den Ein­fluss von Tomás Mal­do­na­do und der Mo­der­ne auf­ge­baut hat­te. Un­ser Ziel war es, die­ses Mo­dell aus ei­ner an­de­ren Per­spek­ti­ve her­aus zu hin­ter­fra­gen – nicht so wie in den 1990er-Jah­ren mit dem Ein­zug des post­mo­der­nen De­signs und Fi­gu­ren wie Da­vid Car­son, son­dern aus ei­ner Per­spek­ti­ve, die von den Gen­der Stu­dies ge­prägt ist.

Das Ziel der Posterserie „Orgullo bostero“ ist es, Männlichkeit (Singular) und Männlichkeiten (Plural) im Bereich des Fußballs zu problematisieren. Bild © Maria Emilia Baliño, Valentina Bondio, Francisco Gorga, Malena Montenegro und Jennifer Schwimmer

An­fangs wuss­ten wir nicht, ob es funk­tio­nie­ren wür­de. Wir hat­ten kei­ne Ah­nung, ob sich fünf oder zwei­hun­dert Stu­die­ren­de an­mel­den wür­den. Und es wa­ren tat­säch­lich zwei­hun­dert. Na­tür­lich ge­schah das auch in ei­nem be­son­de­ren his­to­ri­schen Kon­text in Ar­gen­ti­ni­en, in dem fe­mi­nis­ti­sche Fra­gen zu­neh­mend ins Zen­trum der öf­fent­li­chen De­bat­te rück­ten. Ar­gen­ti­ni­en hat ei­ne lan­ge Tra­di­ti­on fe­mi­nis­ti­scher Stu­di­en im uni­ver­si­tä­ren Be­reich – al­ler­dings vor al­lem in Fä­chern der So­zi­al­wis­sen­schaf­ten, nicht in Ar­chi­tek­tur oder De­sign.

Ab 2015 ent­wi­ckel­te sich ei­ne in­ten­si­ve ge­sell­schaft­li­che Dis­kus­si­on über den Fe­mi­nis­mus, die zu grö­ße­rer Sicht­bar­keit und Wir­kung führ­te. Die­se For­de­run­gen mün­de­ten in ge­setz­li­chen Re­ge­lun­gen, in­sti­tu­tio­nel­len Pro­to­kol­len – und die öf­fent­li­chen Uni­ver­si­tä­ten be­gan­nen, klar Stel­lung zu be­zie­hen. In die­sem Kon­text wur­de es mög­lich, ein Fach wie un­se­res zu eta­blie­ren, und vie­le Stu­die­ren­de zeig­ten In­ter­es­se. Ab die­sem Mo­ment be­stand die Her­aus­for­de­rung dar­in, die­ser Nach­fra­ge auch ge­recht zu wer­den.

Von An­fang an war un­ser Ziel, dass die­ses Fach nicht ein­fach in den So­zi­al­wis­sen­schaf­ten statt­fin­den könn­te. Es soll­te ein Se­mi­nar sein, das Gen­der Stu­dies wirk­lich mit Ar­chi­tek­tur und De­sign ver­bin­det. Ich stell­te mir im­mer die Fra­ge: „Könn­te die­se Lehr­ver­an­stal­tung je­mand un­ter­rich­ten, der nur Gen­der Stu­dies stu­diert hat? Nein. Und je­mand, der nur De­sign stu­diert hat? Auch nicht.“ Wir woll­ten ein wirk­lich trans­dis­zi­pli­nä­res Pro­jekt auf­bau­en.

Un­se­re Stu­die­ren­den kom­men aus al­len Fach­rich­tun­gen der Fa­kul­tät: Ar­chi­tek­tur, In­dus­trie­de­sign, Gra­fik­de­sign, au­dio­vi­su­el­le Ge­stal­tung, Land­schafts­ar­chi­tek­tur, Mo­de­de­sign... Sie brin­gen be­reits ei­ne ge­wis­se in­ter­dis­zi­pli­nä­re Sicht­wei­se mit. Das Glei­che gilt für un­ser Lehr­team: Es um­fasst So­zio­log*in­nen, Kunst­his­to­ri­ker*in­nen, Ar­chi­tekt*in­nen so­wie Gra­fik- und In­dus­trie­de­si­gner*in­nen. Es war uns wich­tig, ein Se­mi­nar zu ge­stal­ten, das all die­se Per­spek­ti­ven zu­sam­men­führt – auf der Ba­sis so­li­der Theo­rie.

Die Stu­die­ren­den be­schäf­ti­gen sich mit queer-theo­re­ti­schen und fe­mi­nis­ti­schen An­sät­zen – so­wohl aus his­to­ri­scher als auch aus theo­re­tisch-kri­ti­scher Per­spek­ti­ve. In ei­ner zwei­ten Pha­se ar­bei­ten sie im Team an ei­nem Pro­jekt, das auch ei­ne ma­te­ri­el­le Um­set­zung er­fährt. Da­bei le­gen wir be­son­de­ren Wert auf den Pro­zess: Nicht das End­pro­dukt ist ent­schei­dend, son­dern wie die theo­re­ti­schen Kon­zep­te in die Ent­wick­lung und Ge­stal­tung des Pro­jekts ein­ge­flos­sen sind. Wir ver­su­chen, die tra­di­tio­nel­len Be­wer­tungs­kri­te­ri­en des De­signs zu hin­ter­fra­gen und rich­ten un­se­ren Fo­kus dar­auf, wie die theo­re­ti­schen In­hal­te in die ge­stal­te­ri­sche Pra­xis in­te­griert wur­den.

Prof. Dr. Griselda Flesler und Prof. Dr. Felix Kosok. Bild © Felix Kosok

Felix Kosok: Könn­test du uns ein paar kon­kre­te Bei­spie­le von Pro­jek­ten nen­nen, die in dei­nen Se­mi­na­ren ent­stan­den sind?

Griselda Flesler: Ja, na­tür­lich. Vie­le der Pro­jek­te, die un­se­re Stu­die­ren­den ent­wi­ckeln, sind üb­ri­gens auf der Web­site un­se­res Se­mi­nars zu se­hen – dort gibt es ei­ne gro­ße Aus­wahl an Bei­spie­len: https://dyegblog.wordpress.com/.

Ich kann dir aber auch ein paar kon­kre­te Bei­spie­le nen­nen. In der Re­gel ge­hen wir von ge­setz­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen oder ge­sell­schaft­lich re­le­van­ten Kon­tex­ten in Ar­gen­ti­ni­en aus. Ein Bei­spiel ist das Ge­setz zur um­fas­sen­den Se­xu­al­er­zie­hung (ESI), das vom Kin­der­gar­ten bis zur Uni­ver­si­tät gilt. Auf die­ser Grund­la­ge ha­ben Stu­die­ren­de Pro­jek­te ent­wi­ckelt, in de­nen sie den Raum von Klas­sen­zim­mern neu den­ken: wie Mö­bel, Raum­auf­tei­lung und Ge­stal­tung ei­ne in­klu­si­ve Bil­dung för­dern oder be­hin­dern kön­nen – Bil­dung, die auf Dia­log, Aus­tausch und das In­fra­ge­stel­len tra­di­tio­nel­ler Hier­ar­chi­en setzt.

Ein an­de­rer Pro­jekt­typ ent­steht aus der ei­ge­nen uni­ver­si­tä­ren Er­fah­rung der Stu­die­ren­den. Sie füh­ren Re­cher­chen zum Cam­pus der Uni­ver­si­tät Bue­nos Ai­res durch, ana­ly­sie­ren Ge­mein­schafts­räu­me und re­flek­tie­ren, wie die­se Or­te be­stimm­te ge­sell­schaft­li­che Nor­men sicht­bar ma­chen oder ver­stär­ken. Als et­wa das nicht-bi­nä­re WC an der Fa­kul­tät neu­ge­stal­tet wur­de, be­tei­lig­ten sich Se­min­ar­teil­neh­mer*in­nen an der Ent­wick­lung der Be­schil­de­rung – nach ei­nem Re­fle­xi­ons­pro­zess zu Iden­ti­tät, Spra­che und Kri­tik am bi­nä­ren Mo­dell.

Die­se Pro­jek­te the­ma­ti­sie­ren nicht nur Ge­schlech­ter­fra­gen, son­dern auch öf­fent­li­che Po­li­tik, Rech­te und an­de­re As­pek­te, die in der klas­si­schen Aus­bil­dung in De­sign und Ar­chi­tek­tur oft feh­len. Be­son­ders wert­voll ist, dass die­se Re­fle­xio­nen nicht im Se­mi­nar blei­ben. Die Stu­die­ren­den tra­gen sie wei­ter in ih­re Ate­liers, in an­de­re Lehr­ver­an­stal­tun­gen und auch in ihr Be­rufs­le­ben. Da vie­le von ih­nen in den letz­ten Stu­di­en­jah­ren sind, ar­bei­ten be­reits ei­ni­ge – und wir er­hal­ten viel Rück­mel­dung dar­über, wie sehr ih­nen die­se Werk­zeu­ge hel­fen, kri­tisch zu den­ken und ih­re ge­stal­te­ri­sche Pra­xis zu trans­for­mie­ren.

Mit „Ciclo“ haben Studierende der FADU-UBA Menstruationshygieneprodukte visualisiert, die sich an alle Körper anpassen können. Bild © Leila Alegre, Camila Cortiñas, Guillermo Matsumoto und Georgina Tapia.

Felix Kosok: Ar­gen­ti­ni­en hat ei­ne lan­ge Tra­di­ti­on fe­mi­nis­ti­scher Pro­tes­te. Die „Abue­las de Pla­za de Ma­yo“ (Gro­ß­müt­ter der Pla­za de Ma­yo) pro­tes­tie­ren zum Bei­spiel im öf­fent­li­chen Raum für die Rück­ga­be ih­rer En­kel­kin­der, de­ren Müt­ter wäh­rend der letz­ten zi­vil-mi­li­tä­ri­schen Dik­ta­tur ver­schleppt wur­den. Und in jün­ge­rer Zeit hat „Ni Una Me­nos“ in­ter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit er­regt – mit Pro­tes­ten ge­gen Fe­mi­ni­zi­de und ge­schlechts­spe­zi­fi­sche Ge­walt. War­um müs­sen Frau­en im­mer wie­der für ih­re Rech­te kämp­fen? Und aus ei­ner ge­stal­te­ri­schen Per­spek­ti­ve be­trach­tet: Was ist das Be­son­de­re am De­sign die­ser Pro­tes­te?

Griselda Flesler: Nun, um auf den ers­ten Teil der Fra­ge zu ant­wor­ten: In Ar­gen­ti­ni­en gibt es ei­ne star­ke Tra­di­ti­on des Volks­pro­tests, die tief in der Ge­schich­te des Lan­des ver­wur­zelt ist. En­de des 19. und An­fang des 20. Jahr­hun­derts er­leb­te Ar­gen­ti­ni­en ei­ne gro­ße Ein­wan­de­rungs­wel­le, ins­be­son­de­re von spa­ni­schen und ita­lie­ni­schen An­ar­chist*in­nen, die in Fa­bri­ken ar­bei­te­ten und Ge­werk­schaf­ten grün­de­ten. So ent­stand ei­ne sehr po­li­ti­sier­te Ar­bei­ter*in­nen­be­we­gung. In­ner­halb die­ses Kon­texts or­ga­ni­sier­ten sich auch Ar­bei­te­rin­nen, die für ih­re Rech­te kämpf­ten – teil­wei­se im di­rek­ten Kon­flikt mit ih­ren männ­li­chen Kol­le­gen in­ner­halb der Ge­werk­schaf­ten. Gleich­zei­tig in­ter­es­sier­ten sich Frau­en aus der Ober­schicht und in­tel­lek­tu­el­le Krei­se für in­ter­na­tio­na­le fe­mi­nis­ti­sche Strö­mun­gen wie den eng­li­schen Suf­fra­gis­mus, was eben­falls deut­li­che Spu­ren hin­ter­las­sen hat.

Mit der Zeit ver­la­ger­te sich die­se Pro­test­tra­di­ti­on auch auf an­de­re Räu­me, et­wa die öf­fent­li­chen Uni­ver­si­tä­ten, wo die Stu­die­ren­den­ver­tre­tun­gen sehr po­li­ti­siert sind. All dies trägt zu ei­ner tief ver­wur­zel­ten Pro­test­kul­tur in der ar­gen­ti­ni­schen Ge­sell­schaft bei.

„Conchito“ ist ein spielerisches Werkzeug, das es Kindern ermöglicht, andere Arten von Körperlichkeit zu erfahren. Bild © Carlos Cancela, Beax Dreger, Carolina Lorenzutti und Rocío Quinteros

War­um Frau­en für ih­re Rech­te kämp­fen müs­sen? Die Ant­wort ist ein­fach: Wie je­de an­de­re ge­sell­schaft­li­che Grup­pe, die his­to­risch mar­gi­na­li­siert wur­de, müs­sen auch Frau­en für ih­re Rech­te kämp­fen, um sie sich zu er­kämp­fen. Ar­gen­ti­ni­sche Frau­en ha­ben zen­tra­le ge­sell­schaft­li­che Kämp­fe nicht nur be­glei­tet, son­dern oft auch an­ge­führt: das Wahl­recht, das Recht auf Bil­dung, auf fai­re und be­zahl­te Ar­beit, auf Ab­trei­bung, auf Schei­dung... Die Lis­te ist lang. In die­sem Zu­sam­men­hang sind die Müt­ter und Gro­ß­müt­ter der Pla­za de Ma­yo be­son­ders sym­bol­träch­tig. Sie ha­ben im kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis das Bild der Frau ver­an­kert, die den öf­fent­li­chen Raum be­an­sprucht, um Ge­rech­tig­keit ein­zu­for­dern. Dank ih­nen ist es für jün­ge­re Ge­ne­ra­tio­nen heu­te ganz selbst­ver­ständ­lich, auf die Stra­ße zu ge­hen – selbst wenn sie nicht po­li­tisch or­ga­ni­siert sind. Es gibt ei­ne Art ge­sun­de „Nor­ma­li­sie­run­g“ des Pro­tests als Re­ak­ti­on auf Un­ge­rech­tig­keit.

Aus ge­stal­te­ri­scher Per­spek­ti­ve ist das Be­son­de­re an die­sen Pro­tes­ten ih­re vi­su­el­le Di­men­si­on, ih­re gra­fi­sche Kraft. Ein Bei­spiel: Ei­ne der kämp­fe­rischs­ten Ge­werk­schaf­ten in der Ge­schich­te Ar­gen­ti­ni­ens war die der Gra­fi­ker*in­nen, die zu gro­ßen Tei­len aus an­ar­chis­ti­schen Ty­po­graf*in­nen be­stand, die in Dru­cke­rei­en ar­bei­te­ten. Ein Teil die­ses Er­bes zeigt sich noch heu­te in der star­ken vi­su­el­len Prä­senz von De­mons­tra­tio­nen – auch wenn das na­tür­lich nicht die ein­zi­ge Er­klä­rung für die­ses Phä­no­men ist.

Ein pa­ra­dig­ma­ti­sches Bei­spiel ist das so­ge­nann­te „Si­lueta­zo“ – ei­ne kol­lek­ti­ve gra­fi­sche Ak­ti­on wäh­rend der Mi­li­tär­dik­ta­tur, bei der die Sil­hou­et­ten von ver­schwun­de­nen Per­so­nen auf Haus­wän­de ge­malt wur­den. Ei­ne ein­fa­che, aber vi­su­ell und emo­tio­nal sehr kraft­vol­le Ges­te. Und bis heu­te – bei den Mär­schen am 24. März für Er­in­ne­rung, Wahr­heit und Ge­rech­tig­keit – spielt Gra­fik ei­ne zen­tra­le Rol­le: Es gibt Li­ve-In­ter­ven­tio­nen wie Sieb­dru­cke auf wei­ßen T-Shirts, Pla­ka­te, Trans­pa­ren­te... Selbst­or­ga­ni­sier­te Pro­duk­tio­nen mi­schen sich mit pro­fes­sio­nell or­ga­ni­sier­ten.

In die­sem Kon­text wird De­sign zu ei­nem Werk­zeug emo­tio­na­ler und po­li­ti­scher Teil­ha­be. Wir le­ben in ei­ner Zeit, in der Po­li­tik stark von in­ten­si­ven Emo­tio­nen ge­prägt ist – Hass, Angst, Hoff­nung – und De­sign hat die Fä­hig­keit, all das vi­su­ell zu ka­na­li­sie­ren. Des­halb glau­be ich, dass wir Ge­stal­ter*in­nen ei­ne fun­dier­te po­li­ti­sche Aus­bil­dung brau­chen – um die­sem Mo­ment ge­recht zu wer­den und mit Ver­ant­wor­tung und Wir­kungs­kraft ein­grei­fen zu kön­nen.

Symbole mit Gender-Perspektive, die sich auf die Vielfalt von Körperlichkeiten und Identität als unfertige Konstruktion konzentriert. Bild © Analía Ivachuta, Nurit Simbler, Leandro Guido und Valeria Bisutti

Felix Kosok: In eu­rem ak­tu­el­len Ar­ti­kel in De­si­gna­bi­li­ties, den du zu­sam­men mit Va­le­ria Durán und Ce­les­te Mo­ret­ti ver­fasst hast, sprecht ihr über die Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on nicht-bi­nä­rer, in­ter­se­xu­el­ler und trans­ge­schlecht­li­cher Kör­per im ar­gen­ti­ni­schen Jus­tiz­sys­tem – et­wa durch Kör­per­dia­gram­me zur Dar­stel­lung von Ver­let­zun­gen. Mir fällt ein wei­te­res Bei­spiel ein: die Kör­per­scan­ner am Flug­ha­fen, bei de­nen das Per­so­nal ent­schei­den muss, ob die zu scan­nen­de Per­son „männ­li­ch“ oder „weib­li­ch“ ist, in­dem es ei­ne pin­ke oder blaue Tas­te drückt. War­um ste­cken wir noch im­mer in die­ser bi­nä­ren Vor­stel­lung fest? Gibt es kei­ne Al­ter­na­ti­ve?

Griselda Flesler: Ja, in dem Ar­ti­kel, den ich ge­mein­sam mit Va­le­ria Durán und Ce­les­te Mo­ret­ti für De­si­gna­bi­li­ties ge­schrie­ben ha­be, spre­chen wir ge­nau dar­über, wie nicht-bi­nä­re, in­ter­se­xu­el­le und trans Kör­per für das ar­gen­ti­ni­sche Jus­tiz­sys­tem nach wie vor schwer les­bar sind. Ein sehr kon­kre­tes Bei­spiel da­für sind die so­ge­nann­ten Kör­per­dia­gram­me, die ver­wen­det wer­den, um Ver­let­zun­gen von Op­fern in Fäl­len ge­walt­sa­men To­des zu do­ku­men­tie­ren. Die dar­ge­stell­ten Kör­per sind da­bei im­mer ent­we­der männ­lich oder weib­lich – es gibt kei­nen Raum für an­de­re Kör­per­lich­kei­ten. Die­se Dia­gram­me wer­den üb­ri­gens nicht nur in Ar­gen­ti­ni­en ver­wen­det, son­dern stam­men aus in­ter­na­tio­na­len Hand­bü­chern der fo­ren­si­schen Me­di­zin. Es han­delt sich um ein Sys­tem, das durch Aus­las­sung un­sicht­bar macht.

Dein Bei­spiel mit dem Kör­per­scan­ner am Flug­ha­fen ist ein sehr tref­fen­des Bild da­für, wie bi­nä­res Den­ken auch im All­tag wirkt: Die Per­son, die das Ge­rät be­dient, muss ei­nen ro­sa oder blau­en Knopf drü­cken – „Man­n“ oder „Frau“ – um den Scan zu ak­ti­vie­ren. Ei­ne er­zwun­ge­ne Ent­schei­dung, die zeigt, dass selbst tech­no­lo­gi­sche Ge­rä­te nach bi­nä­rer Lo­gik funk­tio­nie­ren. Für Men­schen, die in kei­ne die­ser bei­den Ka­te­go­ri­en pas­sen, gibt es schlicht kei­ne Op­ti­on.

Das gro­ße Pro­blem ist, dass wir die Welt wei­ter­hin durch ein tief ver­an­ker­tes bi­nä­res Denk­sche­ma be­trach­ten – nicht nur im Hin­blick auf Ge­schlecht, son­dern in fast al­len Be­rei­chen der west­li­chen Kul­tur: gut/bö­se, schwarz/weiß, Mann/Frau, Kör­per/Geist, öf­fent­lich/pri­vat. Es ist ein Den­ken, das auf Ge­gen­sät­zen ba­siert, auf fes­ten Ge­gen­satz­paa­ren – und das prägt so­gar, wie wir ge­stal­ten.

Die wirk­li­che Her­aus­for­de­rung im De­sign be­steht nicht dar­in, ein­fach ei­ne drit­te Op­ti­on oder ei­ne neue Far­be zwi­schen Ro­sa und Hell­blau ein­zu­füh­ren. Das hie­ße, in­ner­halb der­sel­ben Lo­gik der Klas­si­fi­zie­rung zu blei­ben. Die tie­fe­re Fra­ge lau­tet: Aus wel­chen Ka­te­go­ri­en her­aus ge­stal­ten wir? Wen er­ken­nen wir im De­sign über­haupt als les­ba­res, le­gi­ti­mes Sub­jekt an?

Denn De­sign ka­te­go­ri­siert – nicht nur in Be­zug auf Ge­schlecht, son­dern auch nach so­zia­ler Klas­se, eth­ni­scher Zu­ge­hö­rig­keit, kör­per­li­chen Fä­hig­kei­ten, Al­ter… Je­des De­sign, das sei­ne ei­ge­nen Ka­te­go­ri­en nicht re­flek­tiert, re­pro­du­ziert – wenn auch un­ge­wollt – die Aus­schlüs­se des Sys­tems.

In un­se­rer Rol­le als Leh­ren­de im De­si­gn­be­reich spü­ren wir des­halb ei­ne gro­ße Ver­ant­wor­tung. De­sign zu un­ter­rich­ten hei­ßt auch, zum kri­ti­schen Den­ken zu er­mu­ti­gen. Die For­men, in de­nen wir die Welt be­grei­fen, müs­sen über­dacht wer­den. Das be­deu­tet, die Vor­stel­lung auf­zu­lö­sen, dass al­le Men­schen nach fes­ten Kri­te­ri­en ka­te­go­ri­siert wer­den müs­sen. Es geht nicht dar­um, Un­ter­schie­de zu til­gen oder vor­zu­ge­ben, dass wir al­le gleich sind. Es geht dar­um, Kom­ple­xi­tät an­zu­er­ken­nen – und dass De­sign Räu­me schaf­fen kann (und muss), in de­nen un­ter­schied­li­che Wei­sen des Seins Platz ha­ben, auch wenn sie nicht in vor­ge­ge­be­ne Ras­ter pas­sen. Das hei­ßt auch, Kon­flikt, Dis­kus­si­on und Un­ei­nig­keit als not­wen­di­gen Teil ei­nes de­mo­kra­ti­schen und krea­ti­ven Pro­zes­ses zu ak­zep­tie­ren.

Das Projekt „Nueva unidad“ adressiert das Problem der Hegemonie der Größen durch die aktuellen Messsysteme. Bild © Guadalupe Arias, Fermin Cossalter, Lucia Lavaselli, Carla Pascualini und Antonia Jimena Riera Schnell

Felix Kosok: Im De­sign mit Gen­der-Per­spek­ti­ve ent­ste­hen eben­falls Rei­bun­gen, Frik­tio­nen – wie es im Sprich­wort hei­ßt: Wo Be­we­gung ist, da gibt es auch Rei­bung.

Griselda Flesler: Ge­nau: Frik­ti­on. Das ist das Schlüs­sel­wort. Und das Ent­schei­den­de ist, zu ler­nen, die­se Rei­bun­gen an­zu­neh­men, zu ver­ste­hen, dass wir Teil da­von sind – dass ge­ra­de dort, im Kon­flikt, in der Span­nung, et­was wirk­lich Trans­for­mie­ren­des ent­ste­hen kann. Man kann nicht aus ei­ner ver­meint­lich uni­ver­sel­len Ru­he her­aus ge­stal­ten oder aus ei­ner abs­trak­ten Vor­stel­lung von Gleich­heit – denn so et­was exis­tiert in der Pra­xis nicht.

Es be­un­ru­higt mich, wenn be­stimm­te Dis­kur­se ge­sell­schaft­li­che Pro­ble­me mit Be­grif­fen wie „Gleich­heit“ oder „Har­mo­nie“ lö­sen wol­len – als wä­ren das er­reich­ba­re Zie­le oh­ne Kon­flik­te. Wir wis­sen, dass das nicht der Rea­li­tät ent­spricht. Die ei­gent­li­che Fra­ge ist nicht: Wie ver­mei­den wir Rei­bun­gen?, son­dern: Wie le­ben wir mit ih­nen? Wie ge­stal­ten wir mit ih­nen?

Und ge­nau hier kann De­sign enorm viel bei­tra­gen. Denn die ver­ba­le Spra­che ist oft starr, ge­fan­gen in bi­nä­ren Struk­tu­ren. Die vi­su­el­le Spra­che hin­ge­gen – Bil­der, Gra­fi­ken, Ma­te­ria­li­tä­ten – be­wegt sich in ei­nem of­fe­ne­ren, we­ni­ger ko­dier­ten Raum. Ein Raum, der es er­laubt, Kom­ple­xi­tät, Am­bi­va­lenz und Wi­der­sprü­che aus­zu­drü­cken, die das ge­spro­che­ne Wort oft nicht be­nen­nen kann.

In die­sem Sin­ne kann De­sign Rei­bun­gen nicht nur be­glei­ten – es kann sie sicht­bar ma­chen, spür­bar, denk­bar. De­sign kann ein Werk­zeug sein, um dem Kon­flikt nicht aus­zu­wei­chen, son­dern ihn in ei­ne Mög­lich­keit zu ver­wan­deln.

Felix Kosok: Ja, und da kommt auch die Ma­te­ria­li­tät ins Spiel. Nicht nur als abs­trak­tes Kon­zept, son­dern als et­was, das man ma­chen, bau­en, an­fas­sen kann. Rei­bung zeigt sich auch in den Ma­te­ria­li­en, in den kon­kre­ten De­si­gnent­schei­dun­gen: Wel­che For­men, wel­che Tex­tu­ren, wel­che Trä­ger wäh­len wir? Ma­te­ria­li­tät hat Hand­lungs­macht – sie tritt in Dia­log mit die­sen Span­nun­gen und kann sie so­gar ver­stär­ken oder auf ei­ne Wei­se über­set­zen, wie es Spra­che oft nicht ver­mag.

Griselda Flesler: Ge­nau. Ich den­ke, hier öff­net sich ein sehr frucht­ba­res Feld, um das Nicht-Bi­nä­re nicht nur als ei­ne Fra­ge von Iden­ti­tät oder Ge­schlecht zu be­grei­fen, son­dern als et­was zu­tiefst Struk­tu­rel­les. Et­was, das al­le ge­sell­schaft­li­chen Ebe­nen durch­zieht und die Grund­pfei­ler des mo­der­nen Den­kens in­fra­ge stellt – die­ses Be­dürf­nis, zu klas­si­fi­zie­ren, zu ord­nen, in ge­gen­sätz­li­che Paa­re zu tren­nen.

In die­sem Sin­ne kann Ma­te­ria­li­tät auch ein Weg sein, mit die­sen Lo­gi­ken zu bre­chen. Denn wenn wir aus ei­ner nicht-bi­nä­ren Per­spek­ti­ve ge­stal­ten, er­schaf­fen wir nicht nur Ob­jek­te oder Bil­der – wir de­mon­tie­ren ko­gni­ti­ve Struk­tu­ren, for­dern Denk­wei­sen her­aus. Und das ist zu­tiefst po­li­tisch.

Das Spiel „Vínculos“ lädt uns dazu ein, die „Typen-Familie“ zu überdenken. Bild © Mateo Giordano, Victoria Camila Losardo, Brenda Giselle Valdez Rivero und Malena Vega.

Felix Kosok: Und ab­schlie­ßend: An­ge­sichts all des­sen, was der­zeit in der Welt ge­schieht – dem de­mo­kra­ti­schen Rück­schritt und dem Auf­stieg des rechts­po­pu­lis­ti­schen La­gers –, was denkst du, was wir als Ge­stal­ter*in­nen und For­scher*in­nen tun kön­nen, um die­je­ni­gen zu un­ter­stüt­zen, die von rech­ter Po­li­tik am stärks­ten be­trof­fen sein wer­den?

Griselda Flesler: Ich den­ke, an­ge­sichts des ak­tu­el­len Kon­texts de­mo­kra­ti­scher Rück­schrit­te und des Er­star­kens rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mun­gen ist das Wich­tigs­te, von Wor­ten zu kon­kre­ten Hand­lun­gen über­zu­ge­hen. Es reicht nicht, nur zu re­den – wir müs­sen han­deln. Als Ge­stal­ter*in­nen und For­scher*in­nen hei­ßt das: ein­grei­fen in das Ma­te­ri­el­le, in die Räu­me, in den All­tag. Räu­me schaf­fen, die wirk­lich in­klu­siv sind, die je­nen Sicht­bar­keit ge­ben, die his­to­risch aus­ge­schlos­sen wur­den. Die Stadt, die In­sti­tu­tio­nen, die Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten müs­sen die­se Of­fen­heit nicht nur im Dis­kurs, son­dern auch in ih­rer ma­te­ri­el­len Ge­stal­tung zum Aus­druck brin­gen.

Ge­mein­sam mit dem Gen­der-Ob­ser­va­to­ri­um der Jus­tiz, des­sen Team un­ter an­de­rem aus Fach­per­so­nen aus der „tra­ves­ti“-Com­mu­ni­ty be­steht, ha­ben wir ein For­schungs­pro­jekt ent­wi­ckelt, das dem Jus­tiz­sys­tem Werk­zeu­ge zur Ver­fü­gung stellt, um Iden­ti­tä­ten sicht­bar zu ma­chen, die sonst oft un­ter dem in­sti­tu­tio­nel­len Ra­dar blei­ben: „tra­ves­ti“-Per­so­nen, trans, nicht-bi­nä­re und in­ter­se­xu­el­le Men­schen. Wir ar­bei­ten ganz­heit­lich und hö­ren vor al­lem in Kon­tex­ten von Ge­walt oder Dis­kri­mi­nie­rung ge­nau hin, um zu ver­ste­hen, wel­che Be­dürf­nis­se heu­te tat­säch­lich be­ste­hen.

Ich hal­te es au­ßer­dem für zen­tral, ei­ne wirk­lich auf­merk­sa­me Hal­tung zu ent­wi­ckeln. Das po­li­ti­sche Kli­ma kann sich sehr schnell än­dern, aber Vor­ur­tei­le, sym­bo­li­sche und struk­tu­rel­le Ge­walt sind schon lan­ge tief in der Ge­sell­schaft ver­an­kert. Manch­mal se­hen wir sie nicht – oder wol­len sie nicht se­hen. Als wir zum Bei­spiel das nicht-bi­nä­re WC an der Uni­ver­si­tät ge­stal­tet ha­ben, er­hiel­ten wir ei­ne enor­me Men­ge an an­ony­men Hass­nach­rich­ten in so­zia­len Netz­wer­ken. Da­mals woll­ten wir die­sen Stim­men kei­ne be­son­de­re Auf­merk­sam­keit schen­ken – viel­leicht, weil sie lei­se wa­ren. Aber sie wa­ren da. Und heu­te sind es ge­nau die­se Stim­men, die rech­te oder an­ti-eman­zi­pa­to­ri­sche Par­tei­en wäh­len. Die­se Stim­men sind nicht neu – sie sind nur lau­ter ge­wor­den.

Als Ge­stal­ter*in­nen und For­scher*in­nen liegt un­se­re Auf­ga­be, so glau­be ich, we­ni­ger im Spre­chen als im Zu­hö­ren. Dem zu­zu­hö­ren, was un­be­quem ist, was nicht passt, was im Ver­bor­ge­nen ge­sagt wird. Denn ge­nau dort ent­ste­hen vie­le der Span­nun­gen, die spä­ter im Po­li­ti­schen und im Öf­fent­li­chen es­ka­lie­ren. Zu­hö­ren ist viel­leicht un­se­re stärks­te Res­sour­ce, um in so kom­ple­xen Zei­ten wie die­sen ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln. In Zei­ten wie die­sen müs­sen wir – mehr als re­den – ler­nen, bes­ser zu­zu­hö­ren.

Prof. Dr. Griselda Flesler

ist Gra­fik­de­si­gne­rin, hält ei­nen Mas­ter in De­sign­theo­rie und ist Dok­to­rin der So­zi­al­wis­sen­schaf­ten (UBA). Sie ist lei­ten­de For­sche­rin und Pro­fes­so­rin für De­sign und Gen­der Stu­dies an der Fa­kul­tät für Ar­chi­tek­tur, De­sign und Städ­te­bau der Uni­ver­si­tät Bue­nos Ai­res, Ar­gen­ti­ni­en, Lei­te­rin des Pro­gramms HA­GA-His­to­ry, Af­fects, Gen­der and Ar­chi­ves (IAA-FA­DU-UBA) und Ko-Ko­or­di­na­to­rin des la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Netz­werks für De­sign und Gen­der (Re­LA­DyG).

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