DESIGN DISKURS
In Argentinien ist der Protest tief verwurzelt. Prof. Dr. Griselda Flesler, Professorin für Design und Gender Studies an der Universität von Buenos Aires, erklärt im Gespräch mit Prof. Dr. Felix Kosok, welche Rolle visuelle Gestaltung in den feministischen Bewegungen des Landes spielt und weshalb Zuhören eine Strategie zur Transformation sein kann.
Felix Kosok: Liebe Griselda, du bist Professorin für Gender und Design an der Fakultät für Architektur, Design und Stadtplanung der Universität Buenos Aires – eine der wenigen Professuren mit dieser Bezeichnung weltweit. Was für eine tolle Aufgabe! Erzähl uns etwas darüber.
Griselda Flesler: Ja, es ist eine sehr herausfordernde Aufgabe. Als wir vor neun Jahren anfingen, standen wir vor der Herausforderung, eine neue Sprache, einen anderen theoretischen Rahmen in eine Fakultät einzuführen, die ihre Grundlagen auf den Einfluss von Tomás Maldonado und der Moderne aufgebaut hatte. Unser Ziel war es, dieses Modell aus einer anderen Perspektive heraus zu hinterfragen – nicht so wie in den 1990er-Jahren mit dem Einzug des postmodernen Designs und Figuren wie David Carson, sondern aus einer Perspektive, die von den Gender Studies geprägt ist.

Anfangs wussten wir nicht, ob es funktionieren würde. Wir hatten keine Ahnung, ob sich fünf oder zweihundert Studierende anmelden würden. Und es waren tatsächlich zweihundert. Natürlich geschah das auch in einem besonderen historischen Kontext in Argentinien, in dem feministische Fragen zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Debatte rückten. Argentinien hat eine lange Tradition feministischer Studien im universitären Bereich – allerdings vor allem in Fächern der Sozialwissenschaften, nicht in Architektur oder Design.
Ab 2015 entwickelte sich eine intensive gesellschaftliche Diskussion über den Feminismus, die zu größerer Sichtbarkeit und Wirkung führte. Diese Forderungen mündeten in gesetzlichen Regelungen, institutionellen Protokollen – und die öffentlichen Universitäten begannen, klar Stellung zu beziehen. In diesem Kontext wurde es möglich, ein Fach wie unseres zu etablieren, und viele Studierende zeigten Interesse. Ab diesem Moment bestand die Herausforderung darin, dieser Nachfrage auch gerecht zu werden.
Von Anfang an war unser Ziel, dass dieses Fach nicht einfach in den Sozialwissenschaften stattfinden könnte. Es sollte ein Seminar sein, das Gender Studies wirklich mit Architektur und Design verbindet. Ich stellte mir immer die Frage: „Könnte diese Lehrveranstaltung jemand unterrichten, der nur Gender Studies studiert hat? Nein. Und jemand, der nur Design studiert hat? Auch nicht.“ Wir wollten ein wirklich transdisziplinäres Projekt aufbauen.
Unsere Studierenden kommen aus allen Fachrichtungen der Fakultät: Architektur, Industriedesign, Grafikdesign, audiovisuelle Gestaltung, Landschaftsarchitektur, Modedesign... Sie bringen bereits eine gewisse interdisziplinäre Sichtweise mit. Das Gleiche gilt für unser Lehrteam: Es umfasst Soziolog*innen, Kunsthistoriker*innen, Architekt*innen sowie Grafik- und Industriedesigner*innen. Es war uns wichtig, ein Seminar zu gestalten, das all diese Perspektiven zusammenführt – auf der Basis solider Theorie.
Die Studierenden beschäftigen sich mit queer-theoretischen und feministischen Ansätzen – sowohl aus historischer als auch aus theoretisch-kritischer Perspektive. In einer zweiten Phase arbeiten sie im Team an einem Projekt, das auch eine materielle Umsetzung erfährt. Dabei legen wir besonderen Wert auf den Prozess: Nicht das Endprodukt ist entscheidend, sondern wie die theoretischen Konzepte in die Entwicklung und Gestaltung des Projekts eingeflossen sind. Wir versuchen, die traditionellen Bewertungskriterien des Designs zu hinterfragen und richten unseren Fokus darauf, wie die theoretischen Inhalte in die gestalterische Praxis integriert wurden.

Felix Kosok: Könntest du uns ein paar konkrete Beispiele von Projekten nennen, die in deinen Seminaren entstanden sind?
Griselda Flesler: Ja, natürlich. Viele der Projekte, die unsere Studierenden entwickeln, sind übrigens auf der Website unseres Seminars zu sehen – dort gibt es eine große Auswahl an Beispielen: https://dyegblog.wordpress.com/.
Ich kann dir aber auch ein paar konkrete Beispiele nennen. In der Regel gehen wir von gesetzlichen Rahmenbedingungen oder gesellschaftlich relevanten Kontexten in Argentinien aus. Ein Beispiel ist das Gesetz zur umfassenden Sexualerziehung (ESI), das vom Kindergarten bis zur Universität gilt. Auf dieser Grundlage haben Studierende Projekte entwickelt, in denen sie den Raum von Klassenzimmern neu denken: wie Möbel, Raumaufteilung und Gestaltung eine inklusive Bildung fördern oder behindern können – Bildung, die auf Dialog, Austausch und das Infragestellen traditioneller Hierarchien setzt.
Ein anderer Projekttyp entsteht aus der eigenen universitären Erfahrung der Studierenden. Sie führen Recherchen zum Campus der Universität Buenos Aires durch, analysieren Gemeinschaftsräume und reflektieren, wie diese Orte bestimmte gesellschaftliche Normen sichtbar machen oder verstärken. Als etwa das nicht-binäre WC an der Fakultät neugestaltet wurde, beteiligten sich Seminarteilnehmer*innen an der Entwicklung der Beschilderung – nach einem Reflexionsprozess zu Identität, Sprache und Kritik am binären Modell.
Diese Projekte thematisieren nicht nur Geschlechterfragen, sondern auch öffentliche Politik, Rechte und andere Aspekte, die in der klassischen Ausbildung in Design und Architektur oft fehlen. Besonders wertvoll ist, dass diese Reflexionen nicht im Seminar bleiben. Die Studierenden tragen sie weiter in ihre Ateliers, in andere Lehrveranstaltungen und auch in ihr Berufsleben. Da viele von ihnen in den letzten Studienjahren sind, arbeiten bereits einige – und wir erhalten viel Rückmeldung darüber, wie sehr ihnen diese Werkzeuge helfen, kritisch zu denken und ihre gestalterische Praxis zu transformieren.

Felix Kosok: Argentinien hat eine lange Tradition feministischer Proteste. Die „Abuelas de Plaza de Mayo“ (Großmütter der Plaza de Mayo) protestieren zum Beispiel im öffentlichen Raum für die Rückgabe ihrer Enkelkinder, deren Mütter während der letzten zivil-militärischen Diktatur verschleppt wurden. Und in jüngerer Zeit hat „Ni Una Menos“ internationale Aufmerksamkeit erregt – mit Protesten gegen Feminizide und geschlechtsspezifische Gewalt. Warum müssen Frauen immer wieder für ihre Rechte kämpfen? Und aus einer gestalterischen Perspektive betrachtet: Was ist das Besondere am Design dieser Proteste?
Griselda Flesler: Nun, um auf den ersten Teil der Frage zu antworten: In Argentinien gibt es eine starke Tradition des Volksprotests, die tief in der Geschichte des Landes verwurzelt ist. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte Argentinien eine große Einwanderungswelle, insbesondere von spanischen und italienischen Anarchist*innen, die in Fabriken arbeiteten und Gewerkschaften gründeten. So entstand eine sehr politisierte Arbeiter*innenbewegung. Innerhalb dieses Kontexts organisierten sich auch Arbeiterinnen, die für ihre Rechte kämpften – teilweise im direkten Konflikt mit ihren männlichen Kollegen innerhalb der Gewerkschaften. Gleichzeitig interessierten sich Frauen aus der Oberschicht und intellektuelle Kreise für internationale feministische Strömungen wie den englischen Suffragismus, was ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen hat.
Mit der Zeit verlagerte sich diese Protesttradition auch auf andere Räume, etwa die öffentlichen Universitäten, wo die Studierendenvertretungen sehr politisiert sind. All dies trägt zu einer tief verwurzelten Protestkultur in der argentinischen Gesellschaft bei.

Warum Frauen für ihre Rechte kämpfen müssen? Die Antwort ist einfach: Wie jede andere gesellschaftliche Gruppe, die historisch marginalisiert wurde, müssen auch Frauen für ihre Rechte kämpfen, um sie sich zu erkämpfen. Argentinische Frauen haben zentrale gesellschaftliche Kämpfe nicht nur begleitet, sondern oft auch angeführt: das Wahlrecht, das Recht auf Bildung, auf faire und bezahlte Arbeit, auf Abtreibung, auf Scheidung... Die Liste ist lang. In diesem Zusammenhang sind die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo besonders symbolträchtig. Sie haben im kollektiven Gedächtnis das Bild der Frau verankert, die den öffentlichen Raum beansprucht, um Gerechtigkeit einzufordern. Dank ihnen ist es für jüngere Generationen heute ganz selbstverständlich, auf die Straße zu gehen – selbst wenn sie nicht politisch organisiert sind. Es gibt eine Art gesunde „Normalisierung“ des Protests als Reaktion auf Ungerechtigkeit.
Aus gestalterischer Perspektive ist das Besondere an diesen Protesten ihre visuelle Dimension, ihre grafische Kraft. Ein Beispiel: Eine der kämpferischsten Gewerkschaften in der Geschichte Argentiniens war die der Grafiker*innen, die zu großen Teilen aus anarchistischen Typograf*innen bestand, die in Druckereien arbeiteten. Ein Teil dieses Erbes zeigt sich noch heute in der starken visuellen Präsenz von Demonstrationen – auch wenn das natürlich nicht die einzige Erklärung für dieses Phänomen ist.
Ein paradigmatisches Beispiel ist das sogenannte „Siluetazo“ – eine kollektive grafische Aktion während der Militärdiktatur, bei der die Silhouetten von verschwundenen Personen auf Hauswände gemalt wurden. Eine einfache, aber visuell und emotional sehr kraftvolle Geste. Und bis heute – bei den Märschen am 24. März für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit – spielt Grafik eine zentrale Rolle: Es gibt Live-Interventionen wie Siebdrucke auf weißen T-Shirts, Plakate, Transparente... Selbstorganisierte Produktionen mischen sich mit professionell organisierten.
In diesem Kontext wird Design zu einem Werkzeug emotionaler und politischer Teilhabe. Wir leben in einer Zeit, in der Politik stark von intensiven Emotionen geprägt ist – Hass, Angst, Hoffnung – und Design hat die Fähigkeit, all das visuell zu kanalisieren. Deshalb glaube ich, dass wir Gestalter*innen eine fundierte politische Ausbildung brauchen – um diesem Moment gerecht zu werden und mit Verantwortung und Wirkungskraft eingreifen zu können.

Felix Kosok: In eurem aktuellen Artikel in Designabilities, den du zusammen mit Valeria Durán und Celeste Moretti verfasst hast, sprecht ihr über die Fehlinterpretation nicht-binärer, intersexueller und transgeschlechtlicher Körper im argentinischen Justizsystem – etwa durch Körperdiagramme zur Darstellung von Verletzungen. Mir fällt ein weiteres Beispiel ein: die Körperscanner am Flughafen, bei denen das Personal entscheiden muss, ob die zu scannende Person „männlich“ oder „weiblich“ ist, indem es eine pinke oder blaue Taste drückt. Warum stecken wir noch immer in dieser binären Vorstellung fest? Gibt es keine Alternative?
Griselda Flesler: Ja, in dem Artikel, den ich gemeinsam mit Valeria Durán und Celeste Moretti für Designabilities geschrieben habe, sprechen wir genau darüber, wie nicht-binäre, intersexuelle und trans Körper für das argentinische Justizsystem nach wie vor schwer lesbar sind. Ein sehr konkretes Beispiel dafür sind die sogenannten Körperdiagramme, die verwendet werden, um Verletzungen von Opfern in Fällen gewaltsamen Todes zu dokumentieren. Die dargestellten Körper sind dabei immer entweder männlich oder weiblich – es gibt keinen Raum für andere Körperlichkeiten. Diese Diagramme werden übrigens nicht nur in Argentinien verwendet, sondern stammen aus internationalen Handbüchern der forensischen Medizin. Es handelt sich um ein System, das durch Auslassung unsichtbar macht.
Dein Beispiel mit dem Körperscanner am Flughafen ist ein sehr treffendes Bild dafür, wie binäres Denken auch im Alltag wirkt: Die Person, die das Gerät bedient, muss einen rosa oder blauen Knopf drücken – „Mann“ oder „Frau“ – um den Scan zu aktivieren. Eine erzwungene Entscheidung, die zeigt, dass selbst technologische Geräte nach binärer Logik funktionieren. Für Menschen, die in keine dieser beiden Kategorien passen, gibt es schlicht keine Option.
Das große Problem ist, dass wir die Welt weiterhin durch ein tief verankertes binäres Denkschema betrachten – nicht nur im Hinblick auf Geschlecht, sondern in fast allen Bereichen der westlichen Kultur: gut/böse, schwarz/weiß, Mann/Frau, Körper/Geist, öffentlich/privat. Es ist ein Denken, das auf Gegensätzen basiert, auf festen Gegensatzpaaren – und das prägt sogar, wie wir gestalten.
Die wirkliche Herausforderung im Design besteht nicht darin, einfach eine dritte Option oder eine neue Farbe zwischen Rosa und Hellblau einzuführen. Das hieße, innerhalb derselben Logik der Klassifizierung zu bleiben. Die tiefere Frage lautet: Aus welchen Kategorien heraus gestalten wir? Wen erkennen wir im Design überhaupt als lesbares, legitimes Subjekt an?
Denn Design kategorisiert – nicht nur in Bezug auf Geschlecht, sondern auch nach sozialer Klasse, ethnischer Zugehörigkeit, körperlichen Fähigkeiten, Alter… Jedes Design, das seine eigenen Kategorien nicht reflektiert, reproduziert – wenn auch ungewollt – die Ausschlüsse des Systems.
In unserer Rolle als Lehrende im Designbereich spüren wir deshalb eine große Verantwortung. Design zu unterrichten heißt auch, zum kritischen Denken zu ermutigen. Die Formen, in denen wir die Welt begreifen, müssen überdacht werden. Das bedeutet, die Vorstellung aufzulösen, dass alle Menschen nach festen Kriterien kategorisiert werden müssen. Es geht nicht darum, Unterschiede zu tilgen oder vorzugeben, dass wir alle gleich sind. Es geht darum, Komplexität anzuerkennen – und dass Design Räume schaffen kann (und muss), in denen unterschiedliche Weisen des Seins Platz haben, auch wenn sie nicht in vorgegebene Raster passen. Das heißt auch, Konflikt, Diskussion und Uneinigkeit als notwendigen Teil eines demokratischen und kreativen Prozesses zu akzeptieren.

Felix Kosok: Im Design mit Gender-Perspektive entstehen ebenfalls Reibungen, Friktionen – wie es im Sprichwort heißt: Wo Bewegung ist, da gibt es auch Reibung.
Griselda Flesler: Genau: Friktion. Das ist das Schlüsselwort. Und das Entscheidende ist, zu lernen, diese Reibungen anzunehmen, zu verstehen, dass wir Teil davon sind – dass gerade dort, im Konflikt, in der Spannung, etwas wirklich Transformierendes entstehen kann. Man kann nicht aus einer vermeintlich universellen Ruhe heraus gestalten oder aus einer abstrakten Vorstellung von Gleichheit – denn so etwas existiert in der Praxis nicht.
Es beunruhigt mich, wenn bestimmte Diskurse gesellschaftliche Probleme mit Begriffen wie „Gleichheit“ oder „Harmonie“ lösen wollen – als wären das erreichbare Ziele ohne Konflikte. Wir wissen, dass das nicht der Realität entspricht. Die eigentliche Frage ist nicht: Wie vermeiden wir Reibungen?, sondern: Wie leben wir mit ihnen? Wie gestalten wir mit ihnen?
Und genau hier kann Design enorm viel beitragen. Denn die verbale Sprache ist oft starr, gefangen in binären Strukturen. Die visuelle Sprache hingegen – Bilder, Grafiken, Materialitäten – bewegt sich in einem offeneren, weniger kodierten Raum. Ein Raum, der es erlaubt, Komplexität, Ambivalenz und Widersprüche auszudrücken, die das gesprochene Wort oft nicht benennen kann.
In diesem Sinne kann Design Reibungen nicht nur begleiten – es kann sie sichtbar machen, spürbar, denkbar. Design kann ein Werkzeug sein, um dem Konflikt nicht auszuweichen, sondern ihn in eine Möglichkeit zu verwandeln.
Felix Kosok: Ja, und da kommt auch die Materialität ins Spiel. Nicht nur als abstraktes Konzept, sondern als etwas, das man machen, bauen, anfassen kann. Reibung zeigt sich auch in den Materialien, in den konkreten Designentscheidungen: Welche Formen, welche Texturen, welche Träger wählen wir? Materialität hat Handlungsmacht – sie tritt in Dialog mit diesen Spannungen und kann sie sogar verstärken oder auf eine Weise übersetzen, wie es Sprache oft nicht vermag.
Griselda Flesler: Genau. Ich denke, hier öffnet sich ein sehr fruchtbares Feld, um das Nicht-Binäre nicht nur als eine Frage von Identität oder Geschlecht zu begreifen, sondern als etwas zutiefst Strukturelles. Etwas, das alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht und die Grundpfeiler des modernen Denkens infrage stellt – dieses Bedürfnis, zu klassifizieren, zu ordnen, in gegensätzliche Paare zu trennen.
In diesem Sinne kann Materialität auch ein Weg sein, mit diesen Logiken zu brechen. Denn wenn wir aus einer nicht-binären Perspektive gestalten, erschaffen wir nicht nur Objekte oder Bilder – wir demontieren kognitive Strukturen, fordern Denkweisen heraus. Und das ist zutiefst politisch.

Felix Kosok: Und abschließend: Angesichts all dessen, was derzeit in der Welt geschieht – dem demokratischen Rückschritt und dem Aufstieg des rechtspopulistischen Lagers –, was denkst du, was wir als Gestalter*innen und Forscher*innen tun können, um diejenigen zu unterstützen, die von rechter Politik am stärksten betroffen sein werden?
Griselda Flesler: Ich denke, angesichts des aktuellen Kontexts demokratischer Rückschritte und des Erstarkens rechtspopulistischer Strömungen ist das Wichtigste, von Worten zu konkreten Handlungen überzugehen. Es reicht nicht, nur zu reden – wir müssen handeln. Als Gestalter*innen und Forscher*innen heißt das: eingreifen in das Materielle, in die Räume, in den Alltag. Räume schaffen, die wirklich inklusiv sind, die jenen Sichtbarkeit geben, die historisch ausgeschlossen wurden. Die Stadt, die Institutionen, die Schulen und Universitäten müssen diese Offenheit nicht nur im Diskurs, sondern auch in ihrer materiellen Gestaltung zum Ausdruck bringen.
Gemeinsam mit dem Gender-Observatorium der Justiz, dessen Team unter anderem aus Fachpersonen aus der „travesti“-Community besteht, haben wir ein Forschungsprojekt entwickelt, das dem Justizsystem Werkzeuge zur Verfügung stellt, um Identitäten sichtbar zu machen, die sonst oft unter dem institutionellen Radar bleiben: „travesti“-Personen, trans, nicht-binäre und intersexuelle Menschen. Wir arbeiten ganzheitlich und hören vor allem in Kontexten von Gewalt oder Diskriminierung genau hin, um zu verstehen, welche Bedürfnisse heute tatsächlich bestehen.
Ich halte es außerdem für zentral, eine wirklich aufmerksame Haltung zu entwickeln. Das politische Klima kann sich sehr schnell ändern, aber Vorurteile, symbolische und strukturelle Gewalt sind schon lange tief in der Gesellschaft verankert. Manchmal sehen wir sie nicht – oder wollen sie nicht sehen. Als wir zum Beispiel das nicht-binäre WC an der Universität gestaltet haben, erhielten wir eine enorme Menge an anonymen Hassnachrichten in sozialen Netzwerken. Damals wollten wir diesen Stimmen keine besondere Aufmerksamkeit schenken – vielleicht, weil sie leise waren. Aber sie waren da. Und heute sind es genau diese Stimmen, die rechte oder anti-emanzipatorische Parteien wählen. Diese Stimmen sind nicht neu – sie sind nur lauter geworden.
Als Gestalter*innen und Forscher*innen liegt unsere Aufgabe, so glaube ich, weniger im Sprechen als im Zuhören. Dem zuzuhören, was unbequem ist, was nicht passt, was im Verborgenen gesagt wird. Denn genau dort entstehen viele der Spannungen, die später im Politischen und im Öffentlichen eskalieren. Zuhören ist vielleicht unsere stärkste Ressource, um in so komplexen Zeiten wie diesen verantwortungsvoll zu handeln. In Zeiten wie diesen müssen wir – mehr als reden – lernen, besser zuzuhören.