DESIGN DISKURS
Die derzeitige Krise um COVID-19 stellt uns vor viele Fragen und Aufgaben. Welche Erkenntnisse können wir als Designer*innen daraus für die Zukunft ziehen? Was sollten wir tun? Ein Blick auf gestern, heute und morgen.
Wie leicht die Welt doch aus den Fugen geraten kann! Als Inderin, die in Deutschland aufgewachsen ist, betrachte ich die Welt aus zwei Perspektiven. Hier die relative Sicherheit, in Indien die offensichtliche Unsicherheit. Arm und Reich nebeneinander. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, die Tendenzen egoistischen und konsumorientierten Verhaltens aufzugeben, die hedonistische Einstellung zu überdenken.
In den letzten zwölf Jahren ist die Wirtschaft gewachsen und gewachsen, es hat sich alles vergrößert, vermehrt, ausgedehnt. Zwar kam immer wieder die Frage auf: Wieviel brauchen wir tatsächlich zum Leben? Aber letztendlich drehte sich die Schleife immer weiter. Alles hechtete, raste und strebte nach mehr. Darunter fällt auch das Design. Die bis dato anhaltende Routine, auf Messen jedes Jahr „Neuheiten“ zu finden, muss hinterfragt werden. Ein dampfender Menschenstrom pilgerte jedes Jahr zum Salone nach Mailand mit der Hoffnung, neue Inspirationen, Ideen und Impulse zu finden. Aber fanden wir diese tatsächlich? Letztes Jahr in Mailand dachte ich: „Es ist genug.“ Die Messe war überfrachtet mit Produkten. Manches nachhaltig entworfen. Einiges davon schlicht überflüssig. In der Stadt war die Hölle los: Installationen, Produktpräsentationen und Events. Im „Superstudio“ in der Zona Tortona eine Präsentation nach der anderen. Noch nie bin ich so müde von einer Messe heimgekommen. Ich dachte: „Das reicht jetzt. Mehr muss nicht sein.“ Es kam mir einfach alles zu künstlich gestaltet und inszeniert vor. Daher habe ich bereits vor Ausbruch der Pandemie entschieden, dieses Jahr nicht auf die Möbelmesse zu gehen, sondern etwas anderes zu machen.
Was ist in den letzten Jahren passiert?
Wir sind mit Angeboten und Reizen überflutet worden. Durch den Überfluss stieg der Preisdruck. Alles muss immer billiger werden, von Qualität kann man da schon lange nicht mehr sprechen. Wir könnten und sollten jetzt den Reset-Button drücken, wir können vieles neu denken und anders gestalten. Der Corona-Virus löst weltweit eine Unterbrechung aus. Ein verordnetes Stillhalten. Zeit zum Nachdenken. Was ist wichtig? Was ist unwichtig? Zeit, um die Prioritäten tatsächlich etwas anders zu setzen. Das Jetzt intensiver zu gestalten und zu genießen. Zeit, um den Reset-Button zu drücken. Zeit und Chance, Dinge zu verändern, umzugestalten, anders zu formen. Zeit, die Richtung zu verändern. Ein Jahr könnte diese Zwangspause dauern. Man kann es wie ein Sabbatjahr nehmen. In dieser Zeit sollte man – endlich ernsthaft und konkret – überlegen: Was und wieviel brauchen wir tatsächlich? Wie wollen wir leben? Wieviel können wir lokal erzeugen, wieviel muss global importiert werden?
Kreative und Künstler*innen, kleine und mittelgroße Unternehmen kämpfen um ihr Überleben. Gut, dass die Bundesregierung nicht nur den großen Unternehmen hilft, sondern auch uns Selbstständigen und kleinen Firmen, die nicht das Polster haben, um so eine Zeit überstehen zu können. Doch erst die Zukunft wird zeigen, wer die Kraft von den kleineren Einheiten hat und übrig bleiben wird. Dass in China nach zwei Monaten Lockdown mancherorts die Sicht zum Himmel durch den ausbleibenden Abgasdunst der Industrie wieder frei wird, zeigt, wie sich die Überproduktion an Waren auf unsere Umwelt auswirkt. Es bleibt abzuwarten, wie das Land und die Welt mit diesen Erkenntnissen umgeht. Letztendlich sind es die großen Firmen aus dem Westen, die ihre Produktionen nach China verlagert haben. Es ist höchste Zeit wieder über lokales Sourcing nachzudenken. Aber nicht so, dass es wieder in das andere Extrem führt. Es wird auf ein gesundes Gleichgewicht ankommen, auf die Balance zwischen lokal und global.
Renaissance des lokalen Handwerks
Schon vor Jahren musste ich die Schließung der Textildruckereien in Deutschland und in der Schweiz miterleben. So hat die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie seit 1970 etwa neun Zehntel ihrer Betriebe und Beschäftigten verloren. Als Textildesignerin fand ich das sehr bedauerlich und habe nicht verstanden, warum man das einfach hinnehmen konnte. Damit ist ein immenses Know-how verloren gegangen wie mit der Schließung der legendären Textildruckerei in Mössingen. In Indien gibt es das Crafts Council of India, das das Handwerk fördert. Warum gibt es so etwas nicht in Deutschland? Das Handwerk und die vorgeschaltete Gewinnung von Materialien sind wichtige Säulen und Errungenschaften in einer Gesellschaft. Das Brot, was wir tagtäglich essen, muss immer noch gebacken werden. Eine 3D-Version davon ist mir nicht geläufig. Und wenn es dies gibt, macht das Sinn?
Der Designers’ Saturday, eine Ausstellung , die alle zwei Jahre von den Designherstellern im Schweizerischen Langenthal veranstaltet wird, hat schon darauf reagiert. 2020 wollen die Macher unter dem Mission Statement: „ENOUGH“ ausloten, wie sich zwischen Überangebot und Selbstbeschränkung eine Balance finden lässt – ob als Hersteller*in, Designer*in oder Kund*in. Sind wir nicht immer häufiger versucht, auszurufen: „Enough, es reicht, es muss anders werden?“
Der Fluss von Lebensmitteln, Textilien, Zubehör und vielem mehr bestimmt das Grundrauschen unserer globalisierten Wirtschaft. Alles wird immer stärker miteinander verwoben. Es ist höchste Zeit darüber nachzudenken, wo man was und wie in Zukunft produziert? Brauchen wir denn eine Firma wie Primark, in deren Läden Menschen tütenweise günstige Kleidung, Schuhe und vieles mehr einkaufen, um sie nur kurze Zeit später wegzuwerfen? Man muss nicht jedes Jahr immer umfassendere Kollektionen in der Textilbranche entwickeln. Besser wäre es, weniger zu produzieren und sich auf wertigere, nachhaltigere Produkte zu spezialisieren. Dadurch könnten wieder kleinere Handwerksbetriebe profitieren und neu gegründet werden. Wir haben verlernt, auf unsere Ware zu warten. Wir müssen wieder lernen, Geduld aufzubringen, wenn es um Qualität gehen soll. Wir müssen wieder anfangen, Handwerk wertzuschätzen und Dinge so zu gestalten, dass sie wieder von den Handwerkern repariert werden können. Vielleicht hilft diese Zeit, in der wir wieder verstärkt selbst kochen, eine Idee von der Bedeutung des echten Handwerks zu erlangen – bei aller Liebe zu gutem Essen in Restaurants.
Haben wir das Maß der Dinge verloren?
In der Stadt Prato in der Toskana fertigen Tausende Chinesen Mode »made in Italy« , die dann als Luxusteile zu horrenden Preisen verkauft werden. Diese teils illegalen chinesischen Textilarbeiter sind schlecht bezahlt und die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind vergleichbar mit denen in den Slums in Indien. Und das in Italien wohlgemerkt. Das geht schon seit Jahrzehnten so, aber erst jetzt werden diese Verhältnisse von einer breiteren europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Schattenwirtschaft vom Feinsten. Wenn diese Gesellschaft es verlernt hat, den Wert eines Objektes zu schätzen, dann ist das jetzt die Retourkutsche des habgierigen Kapitalismus. Richard Sennett schreibt völlig richtig in seinem Buch, dass der moderne Kapitalismus das fragile Gleichgewicht der Kooperation und Konkurrenz zum Wanken gebracht hat. 1 Wir landen immer wieder beim Thema des Wertes und der Kosten. John Ruskin, Schriftsteller, Maler, Kunsthistoriker und Sozialphilosoph, hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts den legendären Satz geschrieben: „Es ist unklug, viel zu bezahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu bezahlen. Wenn Sie zu viel bezahlen, verlieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie dagegen zu wenig bezahlen, verlieren Sie manchmal alles, da der gekaufte Gegenstand die ihm zugedachte Aufgabe nicht erfüllen kann. Das Gesetz der Wirtschaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten.“
Wie wollen wir leben?
Wir brauchen nicht noch mehr Autos. Wir brauchen grüne Städte. Wir brauchen die Entzerrung der Städte, mehr Gehwege, Fahrradwege, kreative Lösungen für die Fortbewegung. Es braucht Zwischenräume für kleine, innovative Konzepte. Warum können in Städten nicht mehr E-Dreiräder fahren, um von Punkt A nach B zu gelangen?
Man sollte mehr Selbstzufriedenheit mit den Dingen haben, die man bereits hat. Vielleicht ist dies auch eine Chance mit dem Wettbewerb »wo warst du im letzten Urlaub, wohin gehst du in deinen nächsten Urlaub?« aufzuhören und sich um essenzielle Dinge zu kümmern wie Zusammenarbeit, Gemeinsinn und den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Es ist Zeit, neue, andere Räume zu schaffen. Wie etwa die französische Adlige Cathérine de Vivonne zwischen 1620 und 1648 in Paris einen intimen, literarischen Salon ins Leben gerufen hatte, bei dem höfliche Umgangsformen fast schon zu einem religiösen Ritual wurden. Dafür schuf sie in ihrem Hôtel de Rambouillet ein Blaues Zimmer, wo man sich regelmäßig traf und austauschte. Zwischendurch dachte man auch, Bücher würden verschwinden. Aber das wunderbare haptische Produkt ist immer noch da und wird es auch bleiben.
Design spielt eine wichtige Rolle
Wir haben jetzt die Chance, den Reset-Button zu drücken. Alte Abläufe und Produktionen zu überdenken. Etwas Neues zu starten. Die Produktion an Kreativität für Prozesse in die richtigen Kanäle zu lotsen. Die lokale Industrie und die Designer*innen können hier ihre Impulse einbringen. Die Bundesregierung sollte mutiger Start-Ups fördern, um neue Chancen zu erschließen. Als Designer*innen sind wir in der Lage, kreative Lösungen zu finden. Design kann zur Überwindung der Krise und zur Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Ob es tatsächlich zu Veränderungen kommt, wird an uns liegen, ob wir reflektieren und restrukturieren. Wir Gestalter*innen haben mächtige Werkzeuge, denn die von uns gestaltete Kommunikation, Produkte, Räume und Architektur prägen die Welt. Wir haben eine Verantwortung und sollten diese mehr denn je wahrnehmen. Die Waage ist auf einer Seite eindeutig zu schwer. Wir müssen die andere Schale befüllen, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Wir haben die Chance auf eine Renaissance – dieses Mal auch durch die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. Wir sind jene, die hoffentlich auf dem Weg sind, zu verstehen, dass wir etwas ändern müssen.