DESIGN DISKURS

Die derzeitige Krise um COVID-19 stellt uns vor viele Fragen und Aufgaben. Welche Erkenntnisse können wir als Designer*innen daraus für die Zukunft ziehen? Was sollten wir tun? Ein Blick auf gestern, heute und morgen.

Veröffentlicht am 08.05.2020

Wie leicht die Welt doch aus den Fugen geraten kann! Als Inderin, die in Deutsch­land auf­ge­wachsen ist, betrachte ich die Welt aus zwei Pers­pek­tiven. Hier die relative Sicher­heit, in Indien die offen­sicht­liche Un­sicher­heit. Arm und Reich neben­ein­ander. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, die Tendenzen ego­istischen und konsum­orien­tierten Ver­haltens auf­zu­geben, die hedo­nistische Ein­stellung zu überdenken.

In den letzten zwölf Jahren ist die Wirt­schaft ge­wachsen und gewachsen, es hat sich alles vergrößert, ver­mehrt, aus­gedehnt. Zwar kam immer wieder die Frage auf: Wie­viel brauchen wir tat­sächlich zum Leben? Aber letzt­end­lich drehte sich die Schleife immer weiter. Alles hechtete, raste und strebte nach mehr. Darunter fällt auch das Design. Die bis dato anhal­tende Routine, auf Messen jedes Jahr „Neuheiten“ zu finden, muss hinter­fragt werden. Ein dampfender Menschen­strom pilgerte jedes Jahr zum Salone nach Mailand mit der Hoffnung, neue Ins­pir­ationen, Ideen und Impulse zu finden. Aber fanden wir diese tat­sächlich? Letztes Jahr in Mailand dachte ich: „Es ist genug.“ Die Messe war über­frachtet mit Produkten. Manches nach­haltig ent­worfen. Einiges davon schlicht über­flüssig. In der Stadt war die Hölle los: Instal­lationen, Produkt­präsen­tationen und Events. Im „Superstudio“ in der Zona Tortona eine Präsen­tation nach der anderen. Noch nie bin ich so müde von einer Messe heim­gekommen. Ich dachte: „Das reicht jetzt. Mehr muss nicht sein.“ Es kam mir einfach alles zu künst­lich gestaltet und ins­zeniert vor. Daher habe ich bereits vor Aus­bruch der Pan­demie ent­schieden, dieses Jahr nicht auf die Möbel­messe zu gehen, sondern etwas anderes zu machen.

 

Was ist in den letzten Jahren passiert?

Wir sind mit Angeboten und Reizen über­flutet worden. Durch den Über­fluss stieg der Preis­druck. Alles muss immer billiger werden, von Qualität kann man da schon lange nicht mehr sprechen. Wir könnten und sollten jetzt den Reset-Button drücken, wir können vieles neu denken und anders gestalten. Der Corona-Virus löst weltweit eine Unter­brechung aus. Ein ver­ordnetes Still­halten. Zeit zum Nach­denken. Was ist wichtig? Was ist un­wichtig? Zeit, um die Prio­ritäten tat­sächlich etwas anders zu setzen. Das Jetzt intensiver zu gestalten und zu genießen. Zeit, um den Reset-Button zu drücken. Zeit und Chance, Dinge zu ver­ändern, umzu­ge­stalten, anders zu formen. Zeit, die Rich­tung zu ver­ändern. Ein Jahr könnte diese Zwangs­pause dauern. Man kann es wie ein Sabbat­jahr nehmen. In dieser Zeit sollte man – endlich ernst­haft und konkret – über­legen: Was und wieviel brauchen wir tat­säch­lich? Wie wollen wir leben? Wieviel können wir lokal erzeu­gen, wieviel muss global importiert werden?

Kreative und Künstler­*innen, kleine und mittel­große Unter­nehmen kämpfen um ihr Über­leben. Gut, dass die Bundes­regierung nicht nur den großen Unter­nehmen hilft, sondern auch uns Selbst­ständigen und kleinen Firmen, die nicht das Polster haben, um so eine Zeit über­stehen zu können. Doch erst die Zukunft wird zeigen, wer die Kraft von den kleineren Ein­heiten hat und übrig bleiben wird. Dass in China nach zwei Monaten Lock­down mancher­orts die Sicht zum Himmel durch den aus­bleibenden Abgas­dunst der Industrie wieder frei wird, zeigt, wie sich die Über­produk­tion an Waren auf unsere Umwelt aus­wirkt. Es bleibt abzu­warten, wie das Land und die Welt mit diesen Erkennt­nissen um­geht. Letzt­endlich sind es die großen Firmen aus dem Westen, die ihre Produkt­ionen nach China verlagert haben. Es ist höchste Zeit wieder über lokales Sourcing nach­zu­denken. Aber nicht so, dass es wieder in das andere Extrem führt. Es wird auf ein gesundes Gleich­ge­wicht an­kommen, auf die Balance zwischen lokal und global.

 

Renaissance des lokalen Handwerks

Schon vor Jahren musste ich die Schließung der Textil­druck­ereien in Deutschland und in der Schweiz mit­erleben. So hat die deutsche Textil- und Bekleidungs­industrie seit 1970 etwa neun Zehntel ihrer Betriebe und Beschäftigten ver­loren. Als Textil­designerin fand ich das sehr bedauer­lich und habe nicht ver­standen, warum man das ein­fach hin­nehmen konnte. Damit ist ein immenses Know-how ver­loren gegangen wie mit der Schließung der legendären Textil­druckerei in Mössingen. In Indien gibt es das Crafts Council of India, das das Hand­werk fördert. Warum gibt es so etwas nicht in Deutschland? Das Handwerk und die vor­ge­schaltete Ge­winn­ung von Materialien sind wichtige Säulen und Errungen­schaften in einer Gesell­schaft. Das Brot, was wir tag­täglich essen, muss immer noch ge­backen werden. Eine 3D-Version davon ist mir nicht ge­läufig. Und wenn es dies gibt, macht das Sinn?

Der Designers’ Saturday, eine Aus­stellung , die alle zwei Jahre von den Design­her­stellern im Schweiz­erischen Langen­thal ver­anstaltet wird, hat schon darauf reagiert. 2020 wollen die Macher unter dem Mission State­ment: „ENOUGH“ aus­loten, wie sich zwischen Über­angebot und Selbst­beschränkung eine Balance finden lässt – ob als Her­steller*in, Design­er*in oder Kund*in. Sind wir nicht immer häufiger versucht, aus­zu­rufen: „Enough, es reicht, es muss anders werden?“

Der Fluss von Lebens­mitteln, Textilien, Zu­behör und vielem mehr bestimmt das Grund­rauschen unserer globali­sierten Wirt­schaft. Alles wird immer stärker mit­einander ver­woben. Es ist höchste Zeit darüber nach­zu­denken, wo man was und wie in Zu­kunft produ­ziert? Brauchen wir denn eine Firma wie Primark, in deren Läden Menschen tüten­weise günstige Kleidung, Schuhe und vieles mehr ein­kaufen, um sie nur kurze Zeit später weg­zu­werfen? Man muss nicht jedes Jahr immer um­fassendere Kollek­tionen in der Textil­branche ent­wickeln. Besser wäre es, weniger zu produ­zieren und sich auf wertigere, nach­haltigere Produkte zu speziali­sieren. Dadurch könnten wieder kleinere Hand­werks­betriebe profitieren und neu ge­gründet werden. Wir haben verlernt, auf unsere Ware zu warten. Wir müssen wieder lernen, Geduld aufzu­bringen, wenn es um Qualität gehen soll. Wir müssen wieder anfangen, Hand­werk wert­zu­schätzen und Dinge so zu gestalten, dass sie wieder von den Hand­werkern repariert werden können. Viel­leicht hilft diese Zeit, in der wir wieder ver­stärkt selbst kochen, eine Idee von der Be­deutung des echten Hand­werks zu erlangen – bei aller Liebe zu gutem Essen in Restaurants.

 

Haben wir das Maß der Dinge verloren?

In der Stadt Prato in der Toskana fertigen Tausende Chinesen Mode »made in Italy« , die dann als Luxus­teile zu horrenden Preisen ver­kauft werden. Diese teils illegalen chi­ne­sischen Textil­arbeiter sind schlecht bezahlt und die Lebens- und Arbeits­be­dingungen sind ver­gleich­bar mit denen in den Slums in Indien. Und das in Italien wohl­gemerkt. Das geht schon seit Jahr­zehnten so, aber erst jetzt werden diese Ver­hältnisse von einer breiteren euro­päischen Öffent­lich­keit wahr­ge­nommen. Schatten­wirt­schaft vom Feinsten. Wenn diese Gesell­schaft es verlernt hat, den Wert eines Objektes zu schätzen, dann ist das jetzt die Retour­kutsche des hab­gierigen Kapitalis­mus. Richard Sennett schreibt völlig richtig in seinem Buch, dass der moderne Kapitalis­mus das fragile Gleich­gewicht der Ko­operation und Konkur­renz zum Wanken gebracht hat.­­ 1 Wir landen immer wieder beim Thema des Wertes und der Kosten. John Ruskin, Schrift­steller, Maler, Kunst­historiker und Sozial­philo­soph, hat bereits Ende des 19. Jahr­hunderts den legendären Satz geschrieben: „Es ist unklug, viel zu be­zahlen, aber es ist noch schlechter, zu wenig zu be­zahlen. Wenn Sie zu viel be­zahlen, ver­lieren Sie etwas Geld, das ist alles. Wenn Sie da­gegen zu wenig be­zahlen, ver­lieren Sie manch­mal alles, da der gekaufte Gegen­stand die ihm zuge­dachte Auf­gabe nicht er­füllen kann. Das Gesetz der Wirt­schaft verbietet es, für wenig Geld viel Wert zu erhalten.“

 

Wie wollen wir leben?

Wir brauchen nicht noch mehr Autos. Wir brauchen grüne Städte. Wir brauchen die Ent­zer­rung der Städte, mehr Geh­wege, Fahrrad­wege, kreative Lösungen für die Fort­be­wegung. Es braucht Zwischen­räume für kleine, inno­vative Konzepte. Warum können in Städten nicht mehr E-Drei­räder fahren, um von Punkt A nach B zu gelangen?

Man sollte mehr Selbst­zufrieden­heit mit den Dingen haben, die man bereits hat. Viel­leicht ist dies auch eine Chance mit dem Wett­bewerb »wo warst du im letzten Urlaub, wohin gehst du in deinen nächsten Urlaub?« auf­zuhören und sich um essenzielle Dinge zu kümmern wie Zusam­men­­arbeit, Gemein­sinn und den nach­haltigen Um­gang mit Res­sour­cen. Es ist Zeit, neue, andere Räume zu schaffen. Wie etwa die französische Adlige Cathérine de Vivonne zwischen 1620 und 1648 in Paris einen intimen, literarischen Salon ins Leben gerufen hatte, bei dem höfliche Umgangs­formen fast schon zu einem religiösen Ritual wurden. Dafür schuf sie in ihrem Hôtel de Rambouillet ein Blaues Zimmer, wo man sich regel­mäßig traf und aus­tauschte. Zwischen­durch dachte man auch, Bücher würden ver­schwinden. Aber das wunder­bare haptische Produkt ist immer noch da und wird es auch bleiben.

 

Design spielt eine wichtige Rolle

Wir haben jetzt die Chance, den Reset-Button zu drücken. Alte Abläufe und Produkt­ionen zu über­denken. Etwas Neues zu starten. Die Produkt­ion an Krea­tivität für Prozesse in die richtigen Kanäle zu lotsen. Die lokale Industrie und die Designer­*innen können hier ihre Impulse ein­bringen. Die Bundes­regierung sollte mutiger Start-Ups fördern, um neue Chancen zu er­schließen. Als Designer­*innen sind wir in der Lage, kreative Lösungen zu finden. Design kann zur Über­windung der Krise und zur Trans­formation von Wirt­schaft und Gesell­schaft einen wichtigen Beitrag leisten. Ob es tatsächlich zu Veränder­ungen kommt, wird an uns liegen, ob wir reflek­tieren und restruk­turieren. Wir Gestalter­*innen haben mächtige Werk­zeuge, denn die von uns gestaltete Kommuni­kation, Produkte, Räume und Archi­tektur prägen die Welt. Wir haben eine Verant­wortung und sollten diese mehr denn je wahr­nehmen. Die Waage ist auf einer Seite ein­deutig zu schwer. Wir müssen die andere Schale be­füllen, damit das Gleich­gewicht wieder­her­ge­stellt wird. Wir haben die Chance auf eine Renais­sance – dieses Mal auch durch die Möglich­keiten des digitalen Zeit­alters. Wir sind jene, die hoffent­lich auf dem Weg sind, zu ver­stehen, dass wir etwas ändern müssen.

 

Quellen

1  Richard Sennett, München, 2012, Zusammenarbeit, S. 173 ff.
Benedetta Craveri, New York 2005, The Age of Conversation, S. 27–43
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

Poonam Choudhry

In Indien geboren, in Deutschland aufgewachsen, lebt und arbeitet Poonam Choudhry als Designerin in Stuttgart. Mit ihrem interdisziplinären Designbüro poonamdesigners und als studierte Textildesignerin bringt sie ihr Wissen über Textilien, Oberflächen und Farben für Projekte in Produkt-und Interiordesign ein. Zudem entwickelt die Designerin Konzepte für Events und Installationen, publiziert regelmäßig in Zeitschriften über Design und Architektur und lehrt an Hochschulen. 2016 hat Poonam Choudhry die internationale Plattform und Eventreihe »CreativeDays« in Stuttgart ins Leben gerufen, die den Austausch zwischen Kreativen aus Indien und Deutschland fördert. Im Rahmen ihrer DDC Mitgliedschaft ist Poonam Choudhry DDC Director für interkulturelles Design.

www.poonamdesigners.com