Ausstellung „Talking Bodies – Körperbilder im Plakat im Museum“ für Gestaltung Zürich, November 2023 – Februar 2024, Foto: Pierre Kellenberger, © ZHdK

DESIGN DISKURS

In den letzten Jahren haben ver­schiedene Design-Archive ihre eigenen Samm­lun­gen präsen­tiert, damit sie als An­schauungs­material für drän­gen­de gegen­wärtige Fragen dienen können. Und das bei Medien, die gerade­zu konträr konnotiert sind: Design mit Inno­vation, Archive mit Ver­gangen­heit. Sie zeigen, wie Archive Impuls­geber für neue Dis­kurse sein können.

Veröffentlicht am 04.03.2024

„Sprich mit mir! Die Sammlung be­fragen“ – hatte die Kura­tor­in des Kunst­ge­werbe­mu­seums Berlin, Claudia Banz, ihr Design Lab #7 2020 be­nannt, in dem sie das umfang­reiche Design­archiv ihres Hauses am Bei­spiel einzel­ner Objekte zur Dis­kus­sion stellte. Der Titel ist dem Film „Sprich mit ihr“ des span­ischen Regis­seurs Pedro Almo­dó­var ent­nom­men und dessen Er­zähl­ung von einer Be­zieh­ung zwischen zwei Span­iern und zwei Patien­tin­nen, die in einem Wach­koma liegen. Sprache dient dabei als Kom­muni­kations­mittel, um die Kon­takte aufrecht­zu­er­halten. Ein ähn­liches Ver­hält­nis zwischen heutiger Wahr­nehmung und einer Museums­samm­lung, der Banz offen­sicht­lich einen koma­tösen Zu­stand unter­stellt, könnte her­ge­stellt werden. Zumin­dest proble­mati­sierte dies ein student­isches Team des Master­studien­gangs Art Edu­ca­­tion, Cura­torial Studies, an der Zürcher Hoch­schule der Künste, indem es Objekte aus der Samm­­lung aus­wählte und mit der Frage kon­fron­tierte: „Welche Ge­schich­ten erzählen eigent­lich die Objekte […] jenseits hege­monia­ler muse­aler Deu­tungen?“ Zusam­men mit Angeli Sachs, die die Zürcher Studieren­den­gruppe leitete, sollte die „entangled history of objects“ multi­perspek­tivisch er­schlossen werden.

„Können Museen zu Ver­hand­lungs­orten gesell­schaft­lichen Wandels dienen?“

Design wird noch nicht lange ge­sam­melt und archi­viert. Das Medium, das als flüchtig gilt und nur für die gegen­wärtige Wirk­ung ge­schaffen oder nach reinen Ge­brauchs­kriter­ien ent­worfen wird, schien lange nicht als würdig, in einem Museum kon­ser­viert zu werden. Und in der Hier­archie der Museums­typo­logien rangieren Kunst­gewerbe- und Design­museen auch heute noch an unterster Stelle. Kurator­innen von Design­samm­lun­gen gehen nun neue Wege: Sie stellen sich die Frage, wie mit dem histor­ischen Sammel­gut um­gehen – Doku­mente, die aus den ver­schie­den­­en Epochen stam­men und aus unter­schied­lichen Gründen gesam­melt und geord­net wurden? Sind sie eine tote Masse, in die Ge­schichte ent­lassen, für die Gegen­wart nicht mehr rele­vant, nur noch ästhet­ische Objekte für Bildungs­interes­sierte? Spiegeln sie erstarrte Ord­nungs­kriter­ien wider? Oder können Museen zu Ver­hand­lungs­orten gesell­schaft­lichen Wan­dels dienen, kann Geschichte An­schau­ungs­mater­ial sein, um sich mit gegen­wärtigen Fra­gen aus­ein­ander zu setz­en? Und das bei Medien, die gerade­zu konträr konnotiert sind: De­sign mit Inno­vation, Archive mit Vergangenheit.

In den letzten Jahren haben mehrere Kura­torin­nen der traditio­nellen Deutungs­hoheit von Museen und deren Wissens­diskur­sen entgegen­ge­wirkt, der Ein­schätzung, die pejorativ als „Museali­sierung“ bezeichnet wird. Sie nutzen nun ihre Samm­lungen als Quelle für neue Wissens­­produktion.

Hegemoniale Männlichkeit

Da ist neben Claudia Banz die Kura­torin der Kunst­biblio­thek Berlin, Chris­tina Thom­son, die 2022 ihre frühe Plakat­samm­lung in Hin­blick auf Designer­innen unter­suchte. In ihrer digitalen Aus­stell­ung „Ver­klärt, be­gehrt, ver­ges­sen. Frauen in der frühen Plakat­ge­stalt­ung“ kam sie zu dem Ergeb­nis, dass in der Zeit vor 1914 nur 40 Gestalt­er­innen gegenüber 957 Gestalt­ern in ihrer Samm­lung ver­treten waren. Dieser krasse Pro­porz macht einer­seits auf die Ignor­anz gegen­über dem frühen Design von Frauen in den Narra­tiven der Design­ge­schichte auf­merk­sam, die bis heute an­hält, anderer­seits stellt sie die­jenigen Frauen ins Rampen­licht, die Repräsen­tant­innen des neu er­wach­en­den Selbst­be­wusst­seins von Frauen in dieser Zeit waren – ein Forschungs­thema, das junge Design­wissen­schaft­ler­innen heute zu­nehmend interes­siert. „Goog­ling the canon“ hatte Martha Scotford 2008 ihre Unter­suchung betitelt, in der sie die Narra­tive der Geschichts­schreibung und deren Episteme auf den lang­an­halten­den ‚blind spot‘ verant­wort­lich machte, auf den sie schon 1994 in ihrer berühm­ten Schrift „Messy History vs. Neat History: Toward an Expanded View of Women in Graphic Design“ aufmerk­sam gemacht hatte.

„Ignoranz gegen­über dem frühen Design von Frauen in den Narra­tiven der Design­geschichte.“

Zu einem ähnlichen Ergebnis, was die Unter­reprä­sen­tanz von Frauen in Design­archiven anbe­trifft, kam 2023 Julia Meer, die Leiterin der Plakat­samm­lung des Museums für Kunst und Ge­werbe Hamburg, in ihrer Aus­stell­ung „THE F*WORD. Guerrilla Girls und feminis­tisches Grafik­design“. Dabei stand der Vorlass der amerikan­ischen Guerilla Girls zwar im Zent­rum, die in den 1980er Jahren rebell­isch mittels einer Perfor­mance als anonyme Design­erin­nen mit großen Plastik-Gorilla-Masken in das Metro­politan Museum einge­drungen waren. Sie protes­tierten dagegen, dass viel zu wenige Frauen in Kunst­aus­stellun­gen aus­ge­stellt waren und generell auch gegen den frauen­diskri­minieren­den Kunst­betrieb. Julia Meer konnte nun zusätz­lich nach­weisen, dass in der Plakat­samm­lung des eigenen Hauses von 400.000 Bei­spielen nur 1,5 Prozent von Frauen waren. Diesen Zusam­men­hang kom­men­tier­ten die Guerilla Girls süffi­sant mit einem Pla­kat, das sie eigens für die Aus­stell­ung ent­worfen hatten: Neben einem (in Ham­burg sehr beliebten) Franz­bröt­chen ist ein Krümel zu sehen. Dieser Krümel soll den skan­da­lösen Pro­porz der Geschlechter ver­sinn­bild­lichen, den die Gender­politik des MK&G Ham­burg doku­men­tiert.

Plakat der Guerrilla Girls zum Genderverhältnis in der Plakatsammlung des MK&G Hamburg. Bild © Guerrilla Girls, courtesy guerrillagirls.com

Es blieb bei beiden nun nicht bei der er­hellen­den Erkennt­nis, dass Archive zu den Re­gimen zählen, die zu dis­krimi­nieren­den Narra­tiven bei­tragen und die in Hin­blick auf die Ge­schlechter­konstel­lation geradezu ver­steinert sind, sondern die Kura­torin leitet in vielerlei Hin­sicht und mit ver­schiedenen For­maten ein Um­denken ein, das dem Geist der heutigen Zeit ent­spricht. Museen wollen sich als öffent­liche Kultur­insti­tution in aktu­ellen gesell­schaftlich rele­van­ten De­batten positio­nieren. Sie sind wichtige Multi­plikatoren.

Ausstellung „THE F*WORD - Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign“ im Sommer 2023 im MK&G Hamburg. Bild: Henning Rogge, © Guerrilla Girls, courtesy guerrillagirls.com

Deshalb geht Christina Thom­son weiter in der Durch­forst­ung ihrer Plakat­samm­lung, dies­mal um sie zu de-kolo­ni­sieren. Sie weist auf die Tat­sache hin, dass Design mit einer beson­ders ein­dring­lichen Form in der Wer­bung rassis­tische Stereo­typen des frühen 20. Jahr­hun­derts auf­griff und somit zu ihrer Ver­breit­ung bei­trug. Zwar findet nirgend­wo sonst die Be­fragung der Dinge und der Bilder ein solches Maß an Auf­merk­sam­keit wie in ethno­logischen Mu­seen und wird das ‚decoloni­zing‘ zu einem Dauer­thema von nicht nach­lassen­der Aktu­alität, ins­beson­dere was den Zusam­men­hang zwischen Kolonien und Nazis­mus in der Raub­kunst anbe­trifft, aber auch im Werbe­design wird nur allzu nach­lässig weg­ge­schaut, welche Macht die Bilder in den popu­lären Medien hatten und haben. Wenn­gleich nicht zuletzt die ‚White­ness Studies‘ in vielen Be­reichen auf die Vor­herr­schaft des west­lichen weißen Mannes und der weißen Frau auf­merk­sam ge­macht haben, wird die offen­sicht­lich wirk­same und präsente kolonial-rassis­tische Bild­sprache in der Wer­bung ver­nach­lässigt, mög­licher­weise, weil sie allzu prä­sent war. BIPOCS in den Bil­dern von „Kolonial­waren“ wie Schoko­lade, Zucker, Kaffee, Ziga­retten und Zigarren waren in brutaler Weise rassi­fi­ziert, waren selbst Waren und keine Menschen auf Augen­höhe. Der Um­gang mit dem Schwarzen Körper bleibt bis heute prekär, auch bei Unter­nehmen, die sich Di­ver­sity auf die Fahne ge­schrieben haben oder sich mit einem Di­ver­sity-Manage­ment der neuen Sensi­bili­tät an­passen. Die Macht der (Design-)Ge­schichte lässt in der Omni­präsenz dis­krimi­nieren­der Bilder hierfür eine von vielen Erklär­ungen finden.

Sichtbarkeit von Designerinnen

In besonderer Weise geht Julia Meer in ihrer Aus­stellung über das bloße Zeigen von Expo­naten hinaus und be­spielt neue Formate, die die Deutungs­hoheit bis­heriger Aus­stellungs­kon­zepte durch­brechen. Im Rahmen der Aus­stell­ung wurde ein „Wiki Women Working together to fill the gaps“ implemen­tiert. Im August 2023 lud das MK&G Hamburg zu einem edit-a-thon ein, in dem Gäste auf­ge­fordert waren, Artikel über Design­er­innen in einem kollabo­rativen Prozess zu schreiben und sie dann Wiki­pedia und Wiki­media zuzu­leiten. Dadurch wurde die Sicht­bar­keit der teils völlig unbe­kannten Design­erinnen erhöht. In den digitalen Enzy­klopä­dien wikipedia und wiki­media ist mit Hilfe von Selbst­ermächti­gun­gen durch inter­natio­nale Frauen­gruppen in­zwischen eine fundierte Wissens­erweiter­ung zu konstatieren. 

Franziska Morlok von Rimini Berlin, die die Aus­stellungs­kam­pagne durch­ge­führt hat, stellte zu­dem ein Schrift­meister­innen-Buch zusam­men, das auf die Leistun­gen von Schrift­gestalter­innen auf­merk­sam machen sollte – Schriften, die in der Aus­stell­ung ange­wendet wurden. Distaff Stu­dio wieder­um druckte ein femi­­nis­tisches Glossar auf Kissen, kon­zi­pierte eine Biblio­thek femi­nis­tischer Litera­tur und visuali­sierte die Statis­tiken zur Samm­lung als Info­grafiken. So kam die Aus­stell­ung unter Beteili­gung vieler zustande.

 
Titelbild zur Ausstellung „Talking Bodies – Körperbilder im Plakat“ im Museum für Gestaltung Zürich, November 2023 – Februar 2024, Lars Müller Publishers, Bild: Pierre Kellenberger, © ZHdK

Ein Höhepunkt in der Be­fragung des eigenen Archivs ist die Aus­stell­ung „Talking Bodies – Kör­per­bilder im Plakat“, die Bei­spiele aus der umfang­reichen Samm­lung von andert­halb Jahr­hunder­ten des Mu­seums für Gestalt­ung Zürich zeigt. An­hand von haus­eigenen Expo­naten führt Bettina Richter, die Kura­torin und Leiter­in der Plakat­samm­lung, nicht nur die Körper­bilder in der Konsum­wer­bung vor Augen, meist stereo­type Ideal­körper, die den Zusam­men­hang von Schön­heit und Erfolg sugger­ieren sollen – die Men­schen sind jung, weiß, hetero, attrak­tiv, ge­sund und sport­lich –, sondern macht zu­gleich darauf auf­merk­sam, was aus­ge­grenzt wird: etwa non-binäre, queere, kranke, be­ein­träch­tigte, alte oder Schwarze Körper. Das ist heute be­son­ders interes­sant, weil es viele aktu­elle De­batten um ‚gender and race‘ gibt wie gleich­zeitig um Kör­per­opti­mierung und mediale Selbst­in­szenier­ung. Als Zeichen ihrer Zeit ver­weisen Termini wie Body Posi­tivity, Fat Studies, #metoo, Slut­walks, Cat-Calling, Man­splain­ing, Pink Tax, Toxic Mascu­linity, Glass Ceiling, Pink­ifizier­ung, Male Gaze und vieles mehr auf eine er­höhte gesell­schaftliche Sensibi­lität in Bezug auf kon­ventio­nali­sierte Ge­schlechts­rollen­bilder sowie Dis­kri­mi­nier­ungen und Stereo­typisier­ungen von Frauen und Männern und deren Gegen­be­we­gun­gen.­

„Das Über­denken der Rolle von Designer*innen ist heute zu drängend, um nicht diskutiert zu werden.“

Zwar kann be­zweifelt werden, ob Werbe­grafik über­haupt wirk­same Gegen­strategien her­stellen kann, und in der Tat nimmt in der Aus­stellung (freie) Kunst den kritischen Gegen­part ein. Umso mehr ist es lohnens­wert, sich zu fragen, inwie­weit visu­elle Kulturen kultur­elle ‚global player‘ in der Prägung von Stereo­typen waren und sind und für junge Menschen auch Soziali­sations­medien. Die Design­diszi­plin ist zwar natur­ge­mäß praxis­orien­tiert, doch die neuen Dis­kurse und das Über­denken der Rolle von De­signer­*innen sind heute zu drängend, um nicht disku­tiert zu werden. Sie sollten die visu­ellen Codes nicht den Regeln des Marktes überlassen. 

Ausstellung „Talking Bodies – Körperbilder im Plakat“ im Museum für Gestaltung Zürich, November 2023 – Februar 2024, Foto: Pierre Kellenberger, © ZHdK

Es muss Designer­*innen zu denken geben, wenn Bettina Richter sagt: „Das Plakat als Pro­jek­tions­fläche all­täg­licher Sehn­süchte erweist sich […] beson­ders resis­tent gegen­über gesell­schaft­lichem Wandel.“ Dennoch: Sowohl das Mu­seum als auch De­sign haben auch die Möglich­keit, zu rele­vanten gesell­schaft­lichen Themen eine Halt­ung zu ent­wickeln und sie zu ver­breiten. Der Kata­log, der die Aus­stellung be­gleitet, macht dazu ein höchst lesens­wertes Ange­bot. Er trägt den leicht nuan­cierten Titel: „Talking Bodies. Bild Macht Wirkung“ und ist 2023 bei Lars Müller Publishers heraus­ge­kom­men. Eigen­ständige Autor­*innen­bei­träge ver­tiefen die in der Aus­stell­ung expo­nier­ten Aspekte. Die Essays greifen wissen­schaft­liche Referen­zen von Autor­*innen wie Michel Fou­cault, Stuart Hall, Annette Kuhn, Judith Butler und vieles ähn­liches mehr auf, um deren Schriften zu den Macht­verhält­nissen, die sich in den Körper­bildern sedimen­tieren, zu reflektieren. 

Der Schwarze Körper und seine Wirkung in der Wer­bung steht dabei im Vorder­grund. Paula-Irene Villa lässt ihre For­schung, zum Bei­spiel über Fat Studies, in ihren Bei­trag ein­fließen, andere wie Florian Diener erweitern ihr Disser­tations­thema, in diesem Fall über masku­line Körper­bilder. Für De­signer­*innen beson­ders interes­sant dürfte der kleine Bei­trag von Bettina Richter über das ‚Diversity Manage­ment‘ in der Wer­bung sein. Sofern eine bestimmte Halt­ung dem Ab­satz dient, wird sie bedient – zumin­dest kom­men Zweifel auf, wofür das viel disku­tierte Beispiel von Oliviero Toscani für Benet­ton in den 1980er Jahren stell­ver­tretend steht. Doch eröff­nen die Bei­spiele auch die Mög­lich­keit, visuelle Codes zu durch­brechen und sich an neue Sicht­weisen zu ge­wöhnen. Design kann als Bewusst­seins­ver­stärker für auf­klärer­ische Kon­zepte dienen, Archive können auf Konti­nui­tät und Brüche hin­weisen und Impuls­geber für die Re­flexion neuer Dis­kurse sein.

Prof. i. R. Dr. Gerda Breuer

1995 – 2014 Professorin für Kunst- und Design­ge­schichte an der Berg. Uni­versi­tät Wupper­tal. Leiterin der dortigen Design­samm­lung. 2005–2012 Vorsitz­ende des wissen­schaft­lichen Bei­rates der Stift­ung Bau­haus Dessau. 2014 – 2016 Research Fellow­ship Stiftung Bau­haus Dessau. Aus­stellun­gen und Ver­öffent­lichun­gen zur Kunst-, Foto­grafie- und Design­ge­schichte des 19. und 20. Jahrhunderts.