DESIGN DISKURS
In den letzten Jahren haben verschiedene Design-Archive ihre eigenen Sammlungen präsentiert, damit sie als Anschauungsmaterial für drängende gegenwärtige Fragen dienen können. Und das bei Medien, die geradezu konträr konnotiert sind: Design mit Innovation, Archive mit Vergangenheit. Sie zeigen, wie Archive Impulsgeber für neue Diskurse sein können.
„Sprich mit mir! Die Sammlung befragen“ – hatte die Kuratorin des Kunstgewerbemuseums Berlin, Claudia Banz, ihr Design Lab #7 2020 benannt, in dem sie das umfangreiche Designarchiv ihres Hauses am Beispiel einzelner Objekte zur Diskussion stellte. Der Titel ist dem Film „Sprich mit ihr“ des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar entnommen und dessen Erzählung von einer Beziehung zwischen zwei Spaniern und zwei Patientinnen, die in einem Wachkoma liegen. Sprache dient dabei als Kommunikationsmittel, um die Kontakte aufrechtzuerhalten. Ein ähnliches Verhältnis zwischen heutiger Wahrnehmung und einer Museumssammlung, der Banz offensichtlich einen komatösen Zustand unterstellt, könnte hergestellt werden. Zumindest problematisierte dies ein studentisches Team des Masterstudiengangs Art Education, Curatorial Studies, an der Zürcher Hochschule der Künste, indem es Objekte aus der Sammlung auswählte und mit der Frage konfrontierte: „Welche Geschichten erzählen eigentlich die Objekte […] jenseits hegemonialer musealer Deutungen?“ Zusammen mit Angeli Sachs, die die Zürcher Studierendengruppe leitete, sollte die „entangled history of objects“ multiperspektivisch erschlossen werden.
„Können Museen zu Verhandlungsorten gesellschaftlichen Wandels dienen?“
Design wird noch nicht lange gesammelt und archiviert. Das Medium, das als flüchtig gilt und nur für die gegenwärtige Wirkung geschaffen oder nach reinen Gebrauchskriterien entworfen wird, schien lange nicht als würdig, in einem Museum konserviert zu werden. Und in der Hierarchie der Museumstypologien rangieren Kunstgewerbe- und Designmuseen auch heute noch an unterster Stelle. Kuratorinnen von Designsammlungen gehen nun neue Wege: Sie stellen sich die Frage, wie mit dem historischen Sammelgut umgehen – Dokumente, die aus den verschiedenen Epochen stammen und aus unterschiedlichen Gründen gesammelt und geordnet wurden? Sind sie eine tote Masse, in die Geschichte entlassen, für die Gegenwart nicht mehr relevant, nur noch ästhetische Objekte für Bildungsinteressierte? Spiegeln sie erstarrte Ordnungskriterien wider? Oder können Museen zu Verhandlungsorten gesellschaftlichen Wandels dienen, kann Geschichte Anschauungsmaterial sein, um sich mit gegenwärtigen Fragen auseinander zu setzen? Und das bei Medien, die geradezu konträr konnotiert sind: Design mit Innovation, Archive mit Vergangenheit.
In den letzten Jahren haben mehrere Kuratorinnen der traditionellen Deutungshoheit von Museen und deren Wissensdiskursen entgegengewirkt, der Einschätzung, die pejorativ als „Musealisierung“ bezeichnet wird. Sie nutzen nun ihre Sammlungen als Quelle für neue Wissensproduktion.
Hegemoniale Männlichkeit
Da ist neben Claudia Banz die Kuratorin der Kunstbibliothek Berlin, Christina Thomson, die 2022 ihre frühe Plakatsammlung in Hinblick auf Designerinnen untersuchte. In ihrer digitalen Ausstellung „Verklärt, begehrt, vergessen. Frauen in der frühen Plakatgestaltung“ kam sie zu dem Ergebnis, dass in der Zeit vor 1914 nur 40 Gestalterinnen gegenüber 957 Gestaltern in ihrer Sammlung vertreten waren. Dieser krasse Proporz macht einerseits auf die Ignoranz gegenüber dem frühen Design von Frauen in den Narrativen der Designgeschichte aufmerksam, die bis heute anhält, andererseits stellt sie diejenigen Frauen ins Rampenlicht, die Repräsentantinnen des neu erwachenden Selbstbewusstseins von Frauen in dieser Zeit waren – ein Forschungsthema, das junge Designwissenschaftlerinnen heute zunehmend interessiert. „Googling the canon“ hatte Martha Scotford 2008 ihre Untersuchung betitelt, in der sie die Narrative der Geschichtsschreibung und deren Episteme auf den langanhaltenden ‚blind spot‘ verantwortlich machte, auf den sie schon 1994 in ihrer berühmten Schrift „Messy History vs. Neat History: Toward an Expanded View of Women in Graphic Design“ aufmerksam gemacht hatte.
„Ignoranz gegenüber dem frühen Design von Frauen in den Narrativen der Designgeschichte.“
Zu einem ähnlichen Ergebnis, was die Unterrepräsentanz von Frauen in Designarchiven anbetrifft, kam 2023 Julia Meer, die Leiterin der Plakatsammlung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, in ihrer Ausstellung „THE F*WORD. Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign“. Dabei stand der Vorlass der amerikanischen Guerilla Girls zwar im Zentrum, die in den 1980er Jahren rebellisch mittels einer Performance als anonyme Designerinnen mit großen Plastik-Gorilla-Masken in das Metropolitan Museum eingedrungen waren. Sie protestierten dagegen, dass viel zu wenige Frauen in Kunstausstellungen ausgestellt waren und generell auch gegen den frauendiskriminierenden Kunstbetrieb. Julia Meer konnte nun zusätzlich nachweisen, dass in der Plakatsammlung des eigenen Hauses von 400.000 Beispielen nur 1,5 Prozent von Frauen waren. Diesen Zusammenhang kommentierten die Guerilla Girls süffisant mit einem Plakat, das sie eigens für die Ausstellung entworfen hatten: Neben einem (in Hamburg sehr beliebten) Franzbrötchen ist ein Krümel zu sehen. Dieser Krümel soll den skandalösen Proporz der Geschlechter versinnbildlichen, den die Genderpolitik des MK&G Hamburg dokumentiert.
Es blieb bei beiden nun nicht bei der erhellenden Erkenntnis, dass Archive zu den Regimen zählen, die zu diskriminierenden Narrativen beitragen und die in Hinblick auf die Geschlechterkonstellation geradezu versteinert sind, sondern die Kuratorin leitet in vielerlei Hinsicht und mit verschiedenen Formaten ein Umdenken ein, das dem Geist der heutigen Zeit entspricht. Museen wollen sich als öffentliche Kulturinstitution in aktuellen gesellschaftlich relevanten Debatten positionieren. Sie sind wichtige Multiplikatoren.
Deshalb geht Christina Thomson weiter in der Durchforstung ihrer Plakatsammlung, diesmal um sie zu de-kolonisieren. Sie weist auf die Tatsache hin, dass Design mit einer besonders eindringlichen Form in der Werbung rassistische Stereotypen des frühen 20. Jahrhunderts aufgriff und somit zu ihrer Verbreitung beitrug. Zwar findet nirgendwo sonst die Befragung der Dinge und der Bilder ein solches Maß an Aufmerksamkeit wie in ethnologischen Museen und wird das ‚decolonizing‘ zu einem Dauerthema von nicht nachlassender Aktualität, insbesondere was den Zusammenhang zwischen Kolonien und Nazismus in der Raubkunst anbetrifft, aber auch im Werbedesign wird nur allzu nachlässig weggeschaut, welche Macht die Bilder in den populären Medien hatten und haben. Wenngleich nicht zuletzt die ‚Whiteness Studies‘ in vielen Bereichen auf die Vorherrschaft des westlichen weißen Mannes und der weißen Frau aufmerksam gemacht haben, wird die offensichtlich wirksame und präsente kolonial-rassistische Bildsprache in der Werbung vernachlässigt, möglicherweise, weil sie allzu präsent war. BIPOCS in den Bildern von „Kolonialwaren“ wie Schokolade, Zucker, Kaffee, Zigaretten und Zigarren waren in brutaler Weise rassifiziert, waren selbst Waren und keine Menschen auf Augenhöhe. Der Umgang mit dem Schwarzen Körper bleibt bis heute prekär, auch bei Unternehmen, die sich Diversity auf die Fahne geschrieben haben oder sich mit einem Diversity-Management der neuen Sensibilität anpassen. Die Macht der (Design-)Geschichte lässt in der Omnipräsenz diskriminierender Bilder hierfür eine von vielen Erklärungen finden.
Sichtbarkeit von Designerinnen
In besonderer Weise geht Julia Meer in ihrer Ausstellung über das bloße Zeigen von Exponaten hinaus und bespielt neue Formate, die die Deutungshoheit bisheriger Ausstellungskonzepte durchbrechen. Im Rahmen der Ausstellung wurde ein „Wiki Women Working together to fill the gaps“ implementiert. Im August 2023 lud das MK&G Hamburg zu einem edit-a-thon ein, in dem Gäste aufgefordert waren, Artikel über Designerinnen in einem kollaborativen Prozess zu schreiben und sie dann Wikipedia und Wikimedia zuzuleiten. Dadurch wurde die Sichtbarkeit der teils völlig unbekannten Designerinnen erhöht. In den digitalen Enzyklopädien wikipedia und wikimedia ist mit Hilfe von Selbstermächtigungen durch internationale Frauengruppen inzwischen eine fundierte Wissenserweiterung zu konstatieren.
Franziska Morlok von Rimini Berlin, die die Ausstellungskampagne durchgeführt hat, stellte zudem ein Schriftmeisterinnen-Buch zusammen, das auf die Leistungen von Schriftgestalterinnen aufmerksam machen sollte – Schriften, die in der Ausstellung angewendet wurden. Distaff Studio wiederum druckte ein feministisches Glossar auf Kissen, konzipierte eine Bibliothek feministischer Literatur und visualisierte die Statistiken zur Sammlung als Infografiken. So kam die Ausstellung unter Beteiligung vieler zustande.
Ein Höhepunkt in der Befragung des eigenen Archivs ist die Ausstellung „Talking Bodies – Körperbilder im Plakat“, die Beispiele aus der umfangreichen Sammlung von anderthalb Jahrhunderten des Museums für Gestaltung Zürich zeigt. Anhand von hauseigenen Exponaten führt Bettina Richter, die Kuratorin und Leiterin der Plakatsammlung, nicht nur die Körperbilder in der Konsumwerbung vor Augen, meist stereotype Idealkörper, die den Zusammenhang von Schönheit und Erfolg suggerieren sollen – die Menschen sind jung, weiß, hetero, attraktiv, gesund und sportlich –, sondern macht zugleich darauf aufmerksam, was ausgegrenzt wird: etwa non-binäre, queere, kranke, beeinträchtigte, alte oder Schwarze Körper. Das ist heute besonders interessant, weil es viele aktuelle Debatten um ‚gender and race‘ gibt wie gleichzeitig um Körperoptimierung und mediale Selbstinszenierung. Als Zeichen ihrer Zeit verweisen Termini wie Body Positivity, Fat Studies, #metoo, Slutwalks, Cat-Calling, Mansplaining, Pink Tax, Toxic Masculinity, Glass Ceiling, Pinkifizierung, Male Gaze und vieles mehr auf eine erhöhte gesellschaftliche Sensibilität in Bezug auf konventionalisierte Geschlechtsrollenbilder sowie Diskriminierungen und Stereotypisierungen von Frauen und Männern und deren Gegenbewegungen.
„Das Überdenken der Rolle von Designer*innen ist heute zu drängend, um nicht diskutiert zu werden.“
Zwar kann bezweifelt werden, ob Werbegrafik überhaupt wirksame Gegenstrategien herstellen kann, und in der Tat nimmt in der Ausstellung (freie) Kunst den kritischen Gegenpart ein. Umso mehr ist es lohnenswert, sich zu fragen, inwieweit visuelle Kulturen kulturelle ‚global player‘ in der Prägung von Stereotypen waren und sind und für junge Menschen auch Sozialisationsmedien. Die Designdisziplin ist zwar naturgemäß praxisorientiert, doch die neuen Diskurse und das Überdenken der Rolle von Designer*innen sind heute zu drängend, um nicht diskutiert zu werden. Sie sollten die visuellen Codes nicht den Regeln des Marktes überlassen.
Es muss Designer*innen zu denken geben, wenn Bettina Richter sagt: „Das Plakat als Projektionsfläche alltäglicher Sehnsüchte erweist sich […] besonders resistent gegenüber gesellschaftlichem Wandel.“ Dennoch: Sowohl das Museum als auch Design haben auch die Möglichkeit, zu relevanten gesellschaftlichen Themen eine Haltung zu entwickeln und sie zu verbreiten. Der Katalog, der die Ausstellung begleitet, macht dazu ein höchst lesenswertes Angebot. Er trägt den leicht nuancierten Titel: „Talking Bodies. Bild Macht Wirkung“ und ist 2023 bei Lars Müller Publishers herausgekommen. Eigenständige Autor*innenbeiträge vertiefen die in der Ausstellung exponierten Aspekte. Die Essays greifen wissenschaftliche Referenzen von Autor*innen wie Michel Foucault, Stuart Hall, Annette Kuhn, Judith Butler und vieles ähnliches mehr auf, um deren Schriften zu den Machtverhältnissen, die sich in den Körperbildern sedimentieren, zu reflektieren.
Der Schwarze Körper und seine Wirkung in der Werbung steht dabei im Vordergrund. Paula-Irene Villa lässt ihre Forschung, zum Beispiel über Fat Studies, in ihren Beitrag einfließen, andere wie Florian Diener erweitern ihr Dissertationsthema, in diesem Fall über maskuline Körperbilder. Für Designer*innen besonders interessant dürfte der kleine Beitrag von Bettina Richter über das ‚Diversity Management‘ in der Werbung sein. Sofern eine bestimmte Haltung dem Absatz dient, wird sie bedient – zumindest kommen Zweifel auf, wofür das viel diskutierte Beispiel von Oliviero Toscani für Benetton in den 1980er Jahren stellvertretend steht. Doch eröffnen die Beispiele auch die Möglichkeit, visuelle Codes zu durchbrechen und sich an neue Sichtweisen zu gewöhnen. Design kann als Bewusstseinsverstärker für aufklärerische Konzepte dienen, Archive können auf Kontinuität und Brüche hinweisen und Impulsgeber für die Reflexion neuer Diskurse sein.