Foto © Henning Rogge

DESIGN DISKURS

Als Ku­ra­to­rin am Mu­se­um für Kunst und Ge­wer­be Ham­burg (MK&G) be­rich­tet Dr. Ju­lia Meer, wie sie durch Aus­stel­lun­gen ver­sucht, das Mu­se­um zu öff­nen, um Neu­gier­de zu we­cken. Und von der Her­aus­for­de­rung, mit der his­to­ri­schen Samm­lung, die durch ko­lo­nia­le, pa­tri­ar­cha­le und ka­pi­ta­lis­ti­sche Struk­tu­ren ge­prägt ist, um­zu­ge­hen.

Veröffentlicht am 04.11.2024

Über vie­le Jah­re ha­be ich De­si­gn­mu­se­en in ei­ner Mi­schung aus Ent­rüs­tung und Lan­ge­wei­le ver­las­sen. Ins­be­son­de­re die Dau­er­aus­stel­lun­gen ha­ben mich frus­triert. Stän­dig die­se Stüh­le! Meis­ten­teils chro­no­lo­gisch und stil­his­to­risch an­ge­ord­ne­te Ob­jek­te, be­glei­tet von Bio­gra­fi­en und Be­schrei­bun­gen. Mei­ne Frus­tra­ti­on re­sul­tier­te zu ei­nem nicht un­we­sent­li­chen Teil aus der Tat­sa­che, dass ich kei­ne Idee hat­te, wie ei­ne mich be­geis­tern­de Aus­stel­lung aus­se­hen wür­de. Seit Herbst 2020 bin ich Ku­ra­to­rin am Mu­se­um für Kunst und Ge­wer­be Ham­burg (MK&G) und ver­su­che in klei­nen Schrit­ten, die­se Fra­ge zu be­ant­wor­ten. Im Fol­gen­den stel­le ich ei­ni­ge Aus­stel­lun­gen vor und ge­be Ein­bli­cke in ih­re Ent­ste­hung.

Ausstellung „Tiere, Tampons und Theater – Das MK&G kuratiert kollektiv“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2021; Foto © Henning Rogge

Offene Türen und hohe Stufen

„Tie­re, Tam­pons und Thea­ter“ war ei­ne kol­lek­tiv ku­ra­tier­te Aus­stel­lung: Ich ha­be je­de*n der rund 80 Mit­ar­bei­ten­den des MK&G in die Samm­lungs­räu­me ein­ge­la­den und ge­be­ten, sich ei­ne Ar­beit aus­zu­su­chen. Zur Aus­wahl stan­den die rund 400.000 Ar­bei­ten der Samm­lung Gra­fik und Pla­kat, de­ren Lei­te­rin ich bin. Um die Aus­wahl zu er­leich­tern, hat­te ich ver­schie­de­ne For­ma­te ent­wi­ckelt. Am be­lieb­tes­ten ist die „Wohn­zim­mer-Be­ra­tun­g“, bei der die Kol­leg*in­nen ih­re Vor­lie­ben und In­ter­es­sen schil­der­ten und ich dar­auf­hin po­ten­zi­ell in­ter­es­san­te Ar­bei­ten vor­schlug. Meist war die­se Me­tho­de ver­schränkt mit „Pla­kat-Tin­der“, ei­ner Su­che in der Da­ten­bank, die ir­gend­wann zum „Per­fect Match“ führ­te. Be­liebt war auch die „Wün­schel­ru­ten-Tak­ti­k“, bei der die Aus­su­chen­den durch die Samm­lungs­räu­me streu­nen, sich von Schub­la­den, Kis­ten und Map­pen an­zie­hen las­sen und dar­in stö­bern durf­ten. „De­sign on De­man­d“ wur­de vor­ran­gig von lang­jäh­ri­gen Mit­ar­bei­ten­den ge­wählt, die sich an ei­ne schon ein­mal aus­ge­stell­te Ar­beit er­in­ner­ten. „Bring your own de­si­gn“ er­laub­te, Ob­jek­te, die nicht in der Samm­lung sind, mit­zu­brin­gen. In ei­nem Fall war die Ar­beit vom Mit­brin­gen­den selbst ge­stal­tet, ei­ne an­de­re hängt sonst in der Kü­che der Kol­le­gin. Ei­ne Kol­le­gin war ent­rüs­tet, dass noch kei­ne Ar­bei­ten zu „Black Li­ves Mat­ter“ in der Samm­lung vor­han­den wa­ren, ei­ne an­de­re fand, dass die Ham­bur­ger Sub­kul­tur nicht prä­sent ge­nug sei – bei­de schenk­ten dem Mu­se­um im Nach­gang ih­re Ex­po­na­te. Die Auk­tio­nen „Bie­ten und Bei­ßen“ soll­ten vor al­lem dem zeit­lich ein­ge­schränk­ten Auf­sichts­per­so­nal er­mög­li­chen, in ih­rer Früh­stücks- oder Mit­tags­pau­se schnell ein Werk aus­zu­wäh­len.

Na­he­zu al­le Kol­leg*in­nen ha­ben Ex­po­na­te aus­ge­wählt – vie­le al­ler­dings erst nach mehr­fa­cher Auf­for­de­rung. Der Haupt­grund für die Zu­rück­hal­tung war die Über­zeu­gung, kei­ne Ah­nung zu ha­ben und ent­spre­chend kei­ne qua­li­fi­zier­te Aus­wahl tref­fen zu kön­nen. Auch mei­ne Bit­te, in ei­nem kur­zen Text zu be­grün­den, war­um sie sich für die­se Ar­beit ent­schie­den ha­ben, lös­te häu­fig Ab­wehr aus – im Nach­hin­ein ab­so­lut un­ver­ständ­lich, denn die Tex­te sind so er­hel­lend wie be­rüh­rend und of­fen­ba­ren die Viel­falt an Zu­gän­gen und Ver­bin­dun­gen zu den Samm­lungs­ob­jek­ten. 1 Ich war be­trübt, dass so­gar Men­schen, die im Mu­se­um ar­bei­ten, glau­ben, ih­re Stim­me sei es im Aus­stel­lungs­kon­text nicht wert, ge­hört zu wer­den. Denn ich wün­sche mir, dass das Mu­se­um ein Ort der Neu­gier­de und Er­mäch­ti­gung ist, nicht ei­ner an dem brav zu­ge­hört wird.

Ausstellung „Poster und Papierkram – Ein Glossar des Sammelns“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2021; Foto © Tillmann Engel

Verstehen und Verständnis

Um mit­re­den und mit­ma­chen zu kön­nen, braucht es al­ler­dings Wis­sen und Ver­ständ­nis. Mei­ne zwei­te Aus­stel­lung war da­her ein reich mit Ex­po­na­ten be­stück­tes Glos­sar, das Ein­blick in die Ar­beit mit der Samm­lung gab: Wie wird aus­ge­wählt, wel­che Ar­bei­ten in die Samm­lung auf­ge­nom­men wer­den? Wel­che Kri­te­ri­en wer­den wie und von wem ent­wi­ckelt? Wie wer­den die Ob­jek­te ge­la­gert und be­wahrt? Die Schlag­wor­te reich­ten von „Aus­wahl“ über „Auf­find­bar­keit“, „Bild­rech­te“, „Da­ten­ban­k“, „Eh­ren­am­t“, „Fak­si­mi­le“ und „Hand­schu­he“ über „Ho­heits­wis­sen“, „Leih­ver­kehr“, „Pro­ve­ni­en­z“ und „Platz­man­gel“ bis zu „Re­stau­rie­run­g“, „Sub­jek­ti­vi­tät“, „Über­for­de­run­g“ und „Zu­gäng­lich­keit“. Die Tex­te ga­ben Ein­blick in die Her­aus­for­de­run­gen und wur­den von vie­len für ih­re „An­spra­che auf Au­gen­hö­he“ und die „Of­fen­her­zig­keit“ ge­lobt. Kol­leg*in­nen aus an­de­ren Häu­sern kom­men­tier­ten die Tex­te mit den Wor­ten: „Das wür­de mein Di­rek­tor nie er­lau­ben!“ Der Wunsch, als wohl­ge­ord­ne­ter Ort der Wahr­heit wahr­ge­nom­men zu wer­den, hat vie­ler­orts Be­stand. Ich bin dank­bar, dass die Di­rek­to­rin des MK&G, Tul­ga Bey­er­le, Trans­pa­renz mu­tig un­ter­stützt. Denn dar­in liegt die Chan­ce, nah­bar zu wer­den, ei­ne en­ge­re Ver­bin­dung zum Pu­bli­kum auf­zu­bau­en.

Ausstellung „audio–grafisch. 16 Entwürfe und ihre Entstehung“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2022; Foto © Andreas Hebbel-Seeger

Sichtbare Stimmen und sprechende Orte

Ein wei­te­rer Ver­such, die ku­ra­to­ri­sche Ar­beit zu öff­nen, war die Aus­stel­lung „Be with the Re­vo­lu­ti­on – Street Art und Gra­fik­de­sign in den ara­bi­schen Pro­tes­ten seit 2011“. Sie ent­stand in Zu­sam­men­ar­beit mit der Lei­tung der Samm­lung SWA­NA (Re­gi­on Süd­w­es­t­a­si­en und Nord­afri­ka), al­so als ku­ra­to­ri­sches Team, in dem un­ter­schied­li­che Ex­per­ti­sen zu­sam­men­ka­men. Uns war wich­tig, den aus­stel­len­den Künst­ler*in­nen ei­ne star­ke Stim­me zu ge­ben. Wir führ­ten et­li­che Ge­sprä­che mit Ge­stal­ter*in­nen und Wis­sen­schaft­ler*in­nen aus der Re­gi­on und frag­ten sie, wel­che Ge­schich­te(n) sie wie er­zäh­len wol­len und wel­che Po­si­tio­nen ih­nen wich­tig sind. Schnell kris­tal­li­sier­ten sich Ex­po­na­te und Er­zähl­wei­sen her­aus, et­wa der Wunsch, die Pro­tes­te nicht als „Früh­lin­g“ zu be­zeich­nen und deut­lich zu ma­chen, dass sie an­dau­ern. Auch in der Aus­stel­lungs­ge­stal­tung ha­ben wir die ku­ra­to­ri­sche Stim­me stark zu­rück­ge­nom­men, so­wohl vi­su­ell als auch mit Blick auf die Text­men­ge. Es gibt le­dig­lich klei­ne, wei­ße Schil­der auf de­nen für das Ver­ständ­nis not­wen­di­ge In­for­ma­tio­nen zum Kon­text der ge­zeig­ten Ar­bei­ten ge­ge­ben wer­den. Die Ar­bei­ten selbst wer­den von den Ge­stal­ter*in­nen kom­men­tiert. De­ren Kom­men­ta­re wur­den drei­spra­chig auf far­bi­ge Zet­tel, die mit­ge­nom­men wer­den konn­ten, ge­druckt.

Vie­le Rück­mel­dun­gen wa­ren po­si­tiv und be­ton­ten wie wich­tig es sei, zeit­ge­nös­si­sches ara­bi­sches Gra­fik­de­sign zu zei­gen, denn die Dau­er­aus­stel­lung der Samm­lung SWA­NA be­steht aus his­to­ri­schen Ob­jek­ten, wo­durch der Ein­druck ei­ner „ver­gan­ge­nen Kul­tur“ ent­ste­hen kann. „Be with the Re­vo­lu­ti­on“ wur­de di­rekt an­gren­zend an die Dau­er­aus­stel­lung ge­zeigt und so­mit re­gio­nal ver­an­kert. Ei­ni­ge Be­su­cher*in­nen frag­ten zu­recht, war­um sie nicht in den Räu­men der Gra­fik­samm­lung ge­zeigt wür­de, war­um es „ara­bi­sches Gra­fik­de­si­gn“ sei und nicht ein­fach „aus­stel­lens­wer­tes Gra­fik­de­si­gn“. Der Grund ist be­schä­mend: Wir hat­ten nicht mal drü­ber nach­ge­dacht. Je­de Samm­lung hat ei­ge­ne Aus­stel­lungs­flä­chen, und da der Im­puls von der Samm­lung SWA­NA kam, fand die Aus­stel­lung in den zu­ge­hö­ri­gen Räu­men statt.

Arbeit der Guerrilla Girls an der Fassade des Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg anlässlich der Ausstellung „The F*word – Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign“, 2023; Foto © Henning Rogge

Vermittlung statt Vorwissen

Wie bringt man Ob­jek­te „zum Spre­chen“? In mei­ner Er­fah­rung ist es ein Dia­log zwi­schen den Be­su­chen­den und den Ob­jek­ten, der in ho­hem Ma­ße vom Wis­sen der Be­su­chen­den ab­hängt. Ent­spre­chend ar­ro­gant fin­de ich es, schweig­sa­me Ob­jek­te kom­men­tar­los in Aus­stel­lun­gen zu stel­len. Den Be­su­chen­den bleibt nichts an­de­res üb­rig, als die Ober­flä­che zu be­wun­dern oder frei zu as­so­zi­ie­ren. Als Ku­ra­to­rin in ei­nem Ge­stal­tungs­mu­se­um be­trach­te ich es als mei­ne Auf­ga­be, über Ge­stal­tung auf­zu­klä­ren, statt sie zu au­ra­ti­sie­ren. Selbst als Ge­stal­te­rin aus­ge­bil­det, weiß ich zu­dem, wie span­nend die hin­ter den fi­na­len Ar­bei­ten ste­hen­den Rah­men­be­din­gun­gen, Ent­schei­dun­gen und Ein­fluss­nah­men sind. Die Aus­stel­lung „au­dio–gra­fi­sch“ bringt zeit­ge­nös­si­sche Ent­wür­fe und de­ren Ent­ste­hungs­pro­zes­se zu­sam­men: In drei- bis fünf­mi­nü­ti­gen Au­dio­kom­men­ta­ren er­klä­ren die Ge­stal­ter*in­nen, war­um das Ob­jekt so aus­sieht, wie es aus­sieht. Mal ste­hen die po­li­ti­sche Hal­tung und der Wunsch nach Auf­klä­rung im Vor­der­grund, mal wer­den Tools er­klärt, mal mit wel­chen vi­su­el­len Mit­teln Auf­merk­sam­keit er­regt wer­den kann, mal wie man von Dut­zen­den Skiz­zen zum fi­na­len Ent­wurf kommt und wer al­les da­bei mit­re­den darf. So wird deut­lich, dass Ge­stal­tung weit mehr als „schön“ ist. Un­se­re Um­ge­bung be­steht aus mit spe­zi­fi­schen In­ten­tio­nen ge­stal­te­ten, hoch­wirk­sa­men Ar­te­fak­ten. Es lohnt sich, ih­re Spra­che zu ler­nen, denn wenn man sie vor sich hin­plap­pern lässt, kön­nen sie Ste­reo­ty­pe re­pro­du­zie­ren und an­de­ren Un­fug trei­ben.

Ausstellung „The F*word – Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign“ Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2023; Foto © Henning Rogge

Verstehen und Verändern

Die Aus­gangs­la­ge ist de­pri­mie­rend: Nur 1,5 Pro­zent der Ar­bei­ten in der Samm­lung Gra­fik und Pla­kat wer­den Frau­en zu­ge­schrie­ben. Das Un­gleich­ge­wicht ist an­ge­sichts der 150-jäh­ri­gen Ge­schich­te der Samm­lung nicht über­ra­schend; die Samm­lung ist ein kul­tur­his­to­ri­sches Ar­te­fakt, in das sich ko­lo­nia­le, pa­tri­ar­cha­le und ka­pi­ta­lis­ti­sche Struk­tu­ren ein­ge­schrie­ben ha­ben. Wich­ti­ger ist, wie wir mit der his­to­ri­schen Samm­lung um­ge­hen und wie wir die Samm­lung er­wei­tern. Die Aus­stel­lung „The F*word – Gu­er­ril­la Girls und fe­mi­nis­ti­sches Gra­fik­de­si­gn“ klärt da­her oh­ne Ver­bit­te­rung auf. Sie zeigt ei­ne gro­ße Men­ge an her­aus­ra­gen­den Ar­bei­ten von Ge­stal­te­rin­nen und blickt nach vorn. Ganz wie die Gu­er­ril­la Girls, die 1986 in ih­ren be­rühm­ten Brief an die „Dea­rest Art Collec­tor­s“ auf den Miss­stand hin­wei­sen und sich si­cher sind, dass die „Dea­rest Art Collec­tor­s“ die Si­tua­ti­on so­fort be­he­ben wer­den. 2 Ih­re Ar­bei­ten bil­den das Zen­trum und den ro­ten Fa­den der Aus­stel­lung. In ei­nem Raum wird die Samm­lung sta­tis­tisch be­fragt, im nächs­ten wer­den die Ur­sa­chen der Fehl­re­prä­sen­ta­ti­on er­ör­tert. Dies ge­schieht neu­gie­rig, nicht an­kla­gend. Es geht dar­um, zu ver­ste­hen, um da­von aus­ge­hend in Zu­kunft an­ders zu han­deln. Wie die­ses Han­deln aus­se­hen kann, wird in zwei wei­te­ren Räu­men er­probt. In ei­nem sind rund 300 fe­mi­nis­ti­sche Zi­nes zu se­hen, die über ei­nen Open Call ins Mu­se­um ge­kom­men sind. Die­se selbst­ge­stal­te­ten, -ver­fass­ten und -ver­leg­ten Hef­te ge­ben Ein­blick in den zeit­ge­nös­si­schen Dis­kurs und zei­gen, wie Samm­lungs­er­wei­te­rung aus­se­hen kann, wenn sie nicht an mich als Ein­zel­per­son mit mei­nem gu­ten aber selbst­ver­ständ­lich be­grenz­ten Netz­werk ge­bun­den ist. Ich freue mich dar­auf, in den nächs­ten Jah­ren wei­te­re For­ma­te zu ent­wi­ckeln, die es er­mög­li­chen, die Samm­lungs­er­wei­te­rung zu öff­nen und das Wis­sen Vie­ler zu ver­bin­den. Ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on der Aus­stel­lung in­klu­si­ve Aus­stel­lungs­an­sich­ten und -tex­te ist Open Ac­cess über art­his­to­ri­cum.com zu­gäng­lich. 3

Edit-a-thon im Rahmen der Ausstellung „Wiki Women – Working together to fill the gaps“, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2023; Foto © Lara Molenda

Veröffentlichen und Vernetzen

Die Aus­stel­lungs­rei­he „Wi­ki Wo­men – Working to­ge­ther to fill the gap­s“ ist ei­ne wich­ti­ge Er­gän­zung zu „The F*word“. Wäh­rend letz­te­re auf Struk­tu­ren schaut, macht ers­te­re die Leis­tun­gen ein­zel­ner Ge­stal­te­rin­nen sicht­bar – und zwar über den Aus­stel­lungs­zeit­raum und das Mu­se­um hin­aus. Zu­sam­men mit Be­su­cher*in­nen ha­ben wir in meh­re­ren Edit-a-thons für in­zwi­schen mehr als 50 Ge­stal­te­rin­nen Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel an­ge­legt und er­wei­tert. Ge­mein­freie Bil­der ha­ben wir über Wi­ki­Com­mons zur Ver­fü­gung ge­stellt. Die Re­cher­che­ar­beit er­folg­te über­wie­gend durch Mu­se­ums­mit­ar­bei­ter*in­nen: Wir ha­ben Erb*in­nen kon­tak­tiert, Quel­len zu­sam­men­ge­tra­gen und für die Edit-a-thons auf­be­rei­tet. Ge­mein­sam mit den Be­su­cher*in­nen wur­den die In­for­ma­tio­nen dann in ei­ne Wi­ki­pe­dia-taug­li­che Form ge­bracht. Da­bei ha­ben uns er­fah­re­ne Wi­ki­pe­dia­ner*in­nen un­ter­stützt. Sie ha­ben uns Re­le­vanz­kri­te­ri­en, Zi­tier­vor­ga­ben und For­ma­tie­rungs­stan­dards er­klärt – und so da­für ge­sorgt, dass kein ein­zi­ger Ar­ti­kel ge­löscht wur­de. Gleich­zei­tig im Mu­se­um die Ar­bei­ten zu zei­gen hat sich als sehr hilf­reich er­wie­sen: Von In­grid Wullen­we­ber ha­ben wir 200 Ar­bei­ten in der Samm­lung – hat­ten aber kei­ner­lei In­for­ma­ti­on zu ihr. Bis ei­ne ih­rer Freun­din­nen durch die Aus­stel­lung ging und uns dar­auf­hin kon­tak­tier­te. Das Team von Mont­blanc wie­der­um hat die über Jah­re zu­sam­men­ge­tra­ge­nen In­for­ma­tio­nen zur für die Fir­ma tä­ti­gen Gre­te Gross in ei­nem Ar­ti­kel ge­bün­delt. Stu­die­ren­de der FH Mainz ha­ben im Rah­men des Pro­jekts „UN­SE­EN“ Ar­ti­kel für Ge­stal­te­rin­nen ver­fasst, de­ren Ar­bei­ten sich auch im MK&G be­fin­den. Die­se Syn­er­gie­ef­fek­te sind wich­tig, denn ne­ben dem Aus­stel­lungs­ma­chen und der Pfle­ge der vor­han­de­nen Samm­lung kommt die samm­lungs­be­zo­ge­ne For­schung oft zu kurz. Mög­lich sind die­se Syn­er­gi­en aber erst, wenn Mu­se­en sich öff­nen, Ma­te­ri­al und Wis­sen tei­len.

Nach vier Jah­ren im MK&G ver­ste­he ich, war­um Ver­än­de­rungs­pro­zes­se in Mu­se­en so schwie­rig sind. Vie­le der star­ren Struk­tu­ren sind wich­tig, um die Si­cher­heit von Ob­jek­ten und Be­su­cher*in­nen zu ga­ran­tie­ren, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zes­se und Ab­läu­fe ent­lang per­so­nel­ler Res­sour­cen zu struk­tu­rie­ren, den sorg­sa­men Um­gang mit öf­fent­li­chen Gel­dern si­cher­zu­stel­len oder Recht­e­fra­gen um­fas­send zu klä­ren. Des­we­gen ist Aus­stel­lungs­ar­chi­tek­tur we­ni­ger ex­pe­ri­men­tell als ich es mir wün­sche; des­we­gen ver­brin­ge ich mehr Zeit mit Emails und in Tref­fen, als mit Re­cher­che und Kon­zep­ti­on; des­we­gen sind Ko­ope­ra­ti­ons- und Li­zenz­ver­trä­ge so lang, dass ich mich kaum traue, sie zu ver­schi­cken. Die­se Struk­tu­ren kos­ten so­wohl Zeit als auch Ner­ven – aber sie las­sen ge­nug Spiel­raum, um klei­ne Ex­pe­ri­men­te zu wa­gen. Mei­ne Aus­stel­lun­gen sind kei­ne gro­ße Re­vo­lu­ti­on. Es sind klei­ne Schrit­te, aus de­nen wir ler­nen und durch die wir Ver­trau­en fas­sen für die nächs­ten Schrit­te.

Anmerkungen

1   Im Nachhinein ebenso verwundert bin ich darüber, dass ich selbstverständlich davon ausgegangen bin, dass alle Menschen gerne und leicht Texte schreiben. Mein Angebot, dass ich einen mündlichen Kommentar verschriftliche, wurde gerne angenommen.
2   In diesem Fall habe ich mir selbst den Brief geschrieben, denn als Sammlungsleiterin bin ich dafür verantwortlich, die Sammlung diversitätssensibel zu erweitern. Wie schwierig das ist, wird in der Ausstellung ›Flachware und Papiertorten‹ deutlich werden, in der ich die Neuzugänge der letzten vier Jahre (also unter meiner Leitung) untersuche. Trotz meines subjektiven Eindrucks, dass ich mich intensiv um Arbeiten von FLINTA* bemüht habe, liegt ihr Anteil im Jahr 2021 bei nur 23%, im Jahr 2022 bei 65% und im Jahr 2023 bei 68%.
3   books.ub.uni-heidelberg.de

Dr. Julia Meer

stu­dier­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­de­sign und pro­mo­vier­te mit ei­ner Ar­beit zur Re­zep­ti­on der Neu­en Ty­po­gra­phie. 2012 gab sie ge­mein­sam mit Prof. Dr. Ger­da Breu­er das Buch „Wo­men in Gra­phic De­sign 1890–2012“ her­aus. An­schlie­ßend forsch­te und un­ter­rich­te­te sie un­ter an­de­rem an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin, der FH Pots­dam und dem Mas­sa­chu­setts In­sti­tu­te of Tech­no­lo­gy. Seit 2020 er­probt sie am Mu­se­um für Kunst und Ge­wer­be Ham­burg ku­ra­to­ri­sche Stra­te­gi­en zur Er­hö­hung von Trans­pa­renz und Par­ti­zi­pa­ti­on.