DESIGN DISKURS
Als Kuratorin am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) berichtet Dr. Julia Meer, wie sie durch Ausstellungen versucht, das Museum zu öffnen, um Neugierde zu wecken. Und von der Herausforderung, mit der historischen Sammlung, die durch koloniale, patriarchale und kapitalistische Strukturen geprägt ist, umzugehen.
Über viele Jahre habe ich Designmuseen in einer Mischung aus Entrüstung und Langeweile verlassen. Insbesondere die Dauerausstellungen haben mich frustriert. Ständig diese Stühle! Meistenteils chronologisch und stilhistorisch angeordnete Objekte, begleitet von Biografien und Beschreibungen. Meine Frustration resultierte zu einem nicht unwesentlichen Teil aus der Tatsache, dass ich keine Idee hatte, wie eine mich begeisternde Ausstellung aussehen würde. Seit Herbst 2020 bin ich Kuratorin am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) und versuche in kleinen Schritten, diese Frage zu beantworten. Im Folgenden stelle ich einige Ausstellungen vor und gebe Einblicke in ihre Entstehung.
Offene Türen und hohe Stufen
„Tiere, Tampons und Theater“ war eine kollektiv kuratierte Ausstellung: Ich habe jede*n der rund 80 Mitarbeitenden des MK&G in die Sammlungsräume eingeladen und gebeten, sich eine Arbeit auszusuchen. Zur Auswahl standen die rund 400.000 Arbeiten der Sammlung Grafik und Plakat, deren Leiterin ich bin. Um die Auswahl zu erleichtern, hatte ich verschiedene Formate entwickelt. Am beliebtesten ist die „Wohnzimmer-Beratung“, bei der die Kolleg*innen ihre Vorlieben und Interessen schilderten und ich daraufhin potenziell interessante Arbeiten vorschlug. Meist war diese Methode verschränkt mit „Plakat-Tinder“, einer Suche in der Datenbank, die irgendwann zum „Perfect Match“ führte. Beliebt war auch die „Wünschelruten-Taktik“, bei der die Aussuchenden durch die Sammlungsräume streunen, sich von Schubladen, Kisten und Mappen anziehen lassen und darin stöbern durften. „Design on Demand“ wurde vorrangig von langjährigen Mitarbeitenden gewählt, die sich an eine schon einmal ausgestellte Arbeit erinnerten. „Bring your own design“ erlaubte, Objekte, die nicht in der Sammlung sind, mitzubringen. In einem Fall war die Arbeit vom Mitbringenden selbst gestaltet, eine andere hängt sonst in der Küche der Kollegin. Eine Kollegin war entrüstet, dass noch keine Arbeiten zu „Black Lives Matter“ in der Sammlung vorhanden waren, eine andere fand, dass die Hamburger Subkultur nicht präsent genug sei – beide schenkten dem Museum im Nachgang ihre Exponate. Die Auktionen „Bieten und Beißen“ sollten vor allem dem zeitlich eingeschränkten Aufsichtspersonal ermöglichen, in ihrer Frühstücks- oder Mittagspause schnell ein Werk auszuwählen.
Nahezu alle Kolleg*innen haben Exponate ausgewählt – viele allerdings erst nach mehrfacher Aufforderung. Der Hauptgrund für die Zurückhaltung war die Überzeugung, keine Ahnung zu haben und entsprechend keine qualifizierte Auswahl treffen zu können. Auch meine Bitte, in einem kurzen Text zu begründen, warum sie sich für diese Arbeit entschieden haben, löste häufig Abwehr aus – im Nachhinein absolut unverständlich, denn die Texte sind so erhellend wie berührend und offenbaren die Vielfalt an Zugängen und Verbindungen zu den Sammlungsobjekten. 1 Ich war betrübt, dass sogar Menschen, die im Museum arbeiten, glauben, ihre Stimme sei es im Ausstellungskontext nicht wert, gehört zu werden. Denn ich wünsche mir, dass das Museum ein Ort der Neugierde und Ermächtigung ist, nicht einer an dem brav zugehört wird.
Verstehen und Verständnis
Um mitreden und mitmachen zu können, braucht es allerdings Wissen und Verständnis. Meine zweite Ausstellung war daher ein reich mit Exponaten bestücktes Glossar, das Einblick in die Arbeit mit der Sammlung gab: Wie wird ausgewählt, welche Arbeiten in die Sammlung aufgenommen werden? Welche Kriterien werden wie und von wem entwickelt? Wie werden die Objekte gelagert und bewahrt? Die Schlagworte reichten von „Auswahl“ über „Auffindbarkeit“, „Bildrechte“, „Datenbank“, „Ehrenamt“, „Faksimile“ und „Handschuhe“ über „Hoheitswissen“, „Leihverkehr“, „Provenienz“ und „Platzmangel“ bis zu „Restaurierung“, „Subjektivität“, „Überforderung“ und „Zugänglichkeit“. Die Texte gaben Einblick in die Herausforderungen und wurden von vielen für ihre „Ansprache auf Augenhöhe“ und die „Offenherzigkeit“ gelobt. Kolleg*innen aus anderen Häusern kommentierten die Texte mit den Worten: „Das würde mein Direktor nie erlauben!“ Der Wunsch, als wohlgeordneter Ort der Wahrheit wahrgenommen zu werden, hat vielerorts Bestand. Ich bin dankbar, dass die Direktorin des MK&G, Tulga Beyerle, Transparenz mutig unterstützt. Denn darin liegt die Chance, nahbar zu werden, eine engere Verbindung zum Publikum aufzubauen.
Sichtbare Stimmen und sprechende Orte
Ein weiterer Versuch, die kuratorische Arbeit zu öffnen, war die Ausstellung „Be with the Revolution – Street Art und Grafikdesign in den arabischen Protesten seit 2011“. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der Leitung der Sammlung SWANA (Region Südwestasien und Nordafrika), also als kuratorisches Team, in dem unterschiedliche Expertisen zusammenkamen. Uns war wichtig, den ausstellenden Künstler*innen eine starke Stimme zu geben. Wir führten etliche Gespräche mit Gestalter*innen und Wissenschaftler*innen aus der Region und fragten sie, welche Geschichte(n) sie wie erzählen wollen und welche Positionen ihnen wichtig sind. Schnell kristallisierten sich Exponate und Erzählweisen heraus, etwa der Wunsch, die Proteste nicht als „Frühling“ zu bezeichnen und deutlich zu machen, dass sie andauern. Auch in der Ausstellungsgestaltung haben wir die kuratorische Stimme stark zurückgenommen, sowohl visuell als auch mit Blick auf die Textmenge. Es gibt lediglich kleine, weiße Schilder auf denen für das Verständnis notwendige Informationen zum Kontext der gezeigten Arbeiten gegeben werden. Die Arbeiten selbst werden von den Gestalter*innen kommentiert. Deren Kommentare wurden dreisprachig auf farbige Zettel, die mitgenommen werden konnten, gedruckt.
Viele Rückmeldungen waren positiv und betonten wie wichtig es sei, zeitgenössisches arabisches Grafikdesign zu zeigen, denn die Dauerausstellung der Sammlung SWANA besteht aus historischen Objekten, wodurch der Eindruck einer „vergangenen Kultur“ entstehen kann. „Be with the Revolution“ wurde direkt angrenzend an die Dauerausstellung gezeigt und somit regional verankert. Einige Besucher*innen fragten zurecht, warum sie nicht in den Räumen der Grafiksammlung gezeigt würde, warum es „arabisches Grafikdesign“ sei und nicht einfach „ausstellenswertes Grafikdesign“. Der Grund ist beschämend: Wir hatten nicht mal drüber nachgedacht. Jede Sammlung hat eigene Ausstellungsflächen, und da der Impuls von der Sammlung SWANA kam, fand die Ausstellung in den zugehörigen Räumen statt.
Vermittlung statt Vorwissen
Wie bringt man Objekte „zum Sprechen“? In meiner Erfahrung ist es ein Dialog zwischen den Besuchenden und den Objekten, der in hohem Maße vom Wissen der Besuchenden abhängt. Entsprechend arrogant finde ich es, schweigsame Objekte kommentarlos in Ausstellungen zu stellen. Den Besuchenden bleibt nichts anderes übrig, als die Oberfläche zu bewundern oder frei zu assoziieren. Als Kuratorin in einem Gestaltungsmuseum betrachte ich es als meine Aufgabe, über Gestaltung aufzuklären, statt sie zu auratisieren. Selbst als Gestalterin ausgebildet, weiß ich zudem, wie spannend die hinter den finalen Arbeiten stehenden Rahmenbedingungen, Entscheidungen und Einflussnahmen sind. Die Ausstellung „audio–grafisch“ bringt zeitgenössische Entwürfe und deren Entstehungsprozesse zusammen: In drei- bis fünfminütigen Audiokommentaren erklären die Gestalter*innen, warum das Objekt so aussieht, wie es aussieht. Mal stehen die politische Haltung und der Wunsch nach Aufklärung im Vordergrund, mal werden Tools erklärt, mal mit welchen visuellen Mitteln Aufmerksamkeit erregt werden kann, mal wie man von Dutzenden Skizzen zum finalen Entwurf kommt und wer alles dabei mitreden darf. So wird deutlich, dass Gestaltung weit mehr als „schön“ ist. Unsere Umgebung besteht aus mit spezifischen Intentionen gestalteten, hochwirksamen Artefakten. Es lohnt sich, ihre Sprache zu lernen, denn wenn man sie vor sich hinplappern lässt, können sie Stereotype reproduzieren und anderen Unfug treiben.
Verstehen und Verändern
Die Ausgangslage ist deprimierend: Nur 1,5 Prozent der Arbeiten in der Sammlung Grafik und Plakat werden Frauen zugeschrieben. Das Ungleichgewicht ist angesichts der 150-jährigen Geschichte der Sammlung nicht überraschend; die Sammlung ist ein kulturhistorisches Artefakt, in das sich koloniale, patriarchale und kapitalistische Strukturen eingeschrieben haben. Wichtiger ist, wie wir mit der historischen Sammlung umgehen und wie wir die Sammlung erweitern. Die Ausstellung „The F*word – Guerrilla Girls und feministisches Grafikdesign“ klärt daher ohne Verbitterung auf. Sie zeigt eine große Menge an herausragenden Arbeiten von Gestalterinnen und blickt nach vorn. Ganz wie die Guerrilla Girls, die 1986 in ihren berühmten Brief an die „Dearest Art Collectors“ auf den Missstand hinweisen und sich sicher sind, dass die „Dearest Art Collectors“ die Situation sofort beheben werden. 2 Ihre Arbeiten bilden das Zentrum und den roten Faden der Ausstellung. In einem Raum wird die Sammlung statistisch befragt, im nächsten werden die Ursachen der Fehlrepräsentation erörtert. Dies geschieht neugierig, nicht anklagend. Es geht darum, zu verstehen, um davon ausgehend in Zukunft anders zu handeln. Wie dieses Handeln aussehen kann, wird in zwei weiteren Räumen erprobt. In einem sind rund 300 feministische Zines zu sehen, die über einen Open Call ins Museum gekommen sind. Diese selbstgestalteten, -verfassten und -verlegten Hefte geben Einblick in den zeitgenössischen Diskurs und zeigen, wie Sammlungserweiterung aussehen kann, wenn sie nicht an mich als Einzelperson mit meinem guten aber selbstverständlich begrenzten Netzwerk gebunden ist. Ich freue mich darauf, in den nächsten Jahren weitere Formate zu entwickeln, die es ermöglichen, die Sammlungserweiterung zu öffnen und das Wissen Vieler zu verbinden. Eine Dokumentation der Ausstellung inklusive Ausstellungsansichten und -texte ist Open Access über arthistoricum.com zugänglich. 3
Veröffentlichen und Vernetzen
Die Ausstellungsreihe „Wiki Women – Working together to fill the gaps“ ist eine wichtige Ergänzung zu „The F*word“. Während letztere auf Strukturen schaut, macht erstere die Leistungen einzelner Gestalterinnen sichtbar – und zwar über den Ausstellungszeitraum und das Museum hinaus. Zusammen mit Besucher*innen haben wir in mehreren Edit-a-thons für inzwischen mehr als 50 Gestalterinnen Wikipedia-Artikel angelegt und erweitert. Gemeinfreie Bilder haben wir über WikiCommons zur Verfügung gestellt. Die Recherchearbeit erfolgte überwiegend durch Museumsmitarbeiter*innen: Wir haben Erb*innen kontaktiert, Quellen zusammengetragen und für die Edit-a-thons aufbereitet. Gemeinsam mit den Besucher*innen wurden die Informationen dann in eine Wikipedia-taugliche Form gebracht. Dabei haben uns erfahrene Wikipedianer*innen unterstützt. Sie haben uns Relevanzkriterien, Zitiervorgaben und Formatierungsstandards erklärt – und so dafür gesorgt, dass kein einziger Artikel gelöscht wurde. Gleichzeitig im Museum die Arbeiten zu zeigen hat sich als sehr hilfreich erwiesen: Von Ingrid Wullenweber haben wir 200 Arbeiten in der Sammlung – hatten aber keinerlei Information zu ihr. Bis eine ihrer Freundinnen durch die Ausstellung ging und uns daraufhin kontaktierte. Das Team von Montblanc wiederum hat die über Jahre zusammengetragenen Informationen zur für die Firma tätigen Grete Gross in einem Artikel gebündelt. Studierende der FH Mainz haben im Rahmen des Projekts „UNSEEN“ Artikel für Gestalterinnen verfasst, deren Arbeiten sich auch im MK&G befinden. Diese Synergieeffekte sind wichtig, denn neben dem Ausstellungsmachen und der Pflege der vorhandenen Sammlung kommt die sammlungsbezogene Forschung oft zu kurz. Möglich sind diese Synergien aber erst, wenn Museen sich öffnen, Material und Wissen teilen.
Nach vier Jahren im MK&G verstehe ich, warum Veränderungsprozesse in Museen so schwierig sind. Viele der starren Strukturen sind wichtig, um die Sicherheit von Objekten und Besucher*innen zu garantieren, Kommunikationsprozesse und Abläufe entlang personeller Ressourcen zu strukturieren, den sorgsamen Umgang mit öffentlichen Geldern sicherzustellen oder Rechtefragen umfassend zu klären. Deswegen ist Ausstellungsarchitektur weniger experimentell als ich es mir wünsche; deswegen verbringe ich mehr Zeit mit Emails und in Treffen, als mit Recherche und Konzeption; deswegen sind Kooperations- und Lizenzverträge so lang, dass ich mich kaum traue, sie zu verschicken. Diese Strukturen kosten sowohl Zeit als auch Nerven – aber sie lassen genug Spielraum, um kleine Experimente zu wagen. Meine Ausstellungen sind keine große Revolution. Es sind kleine Schritte, aus denen wir lernen und durch die wir Vertrauen fassen für die nächsten Schritte.